Liebe Gemeinde,
gibt es Ereignisse in Ihrem Leben, deren Bedeutung Sie erst im Nachhinein verstanden haben?
Dinge, die entweder ganz unscheinbar waren, oder die Sie in ihren Konsequenzen nicht richtig erfasst haben?
Ich denke da spontan an eine Sache. Einmal an meine Entscheidung nach der Schule für ein Jahr nach Australien zu gehen. Ein Jahr, aus dem dann zwei Jahre wurden und ohne dass ich nicht Theologie studiert hätte. Eine relativ intuitiv getroffene Entscheidung, deren auch indirekte Konsequenzen mir gar nicht bewusst waren, und die den ganzen Verlauf meines Lebens geprägt hat.
Ich denke, jeder hat da so ein paar Szenen, die ihm unmittelbar vor Augen treten. Vielleicht, wie Sie ihren Partner oder ihre Partnerin kennengelernt haben, wie Sie nach Bonn gezogen und dann dort geblieben sind.
Es gibt aber auch Dinge, die wir, wenn sie uns passieren, gar nicht verstehen können.
So wie etwa die Taufe eines Kindes. Effi Linneborn wurde heute getauft. Sie hat in der Taufe Gottes Zusage, sein Ja zu ihrem Leben erhalten. Sie wurde aufgenommen in unsere Gemeinschaft und gesegnet. Sie hat mitbekommen, dass ein merkwürdiger Typ in Schwarz ihr Wasser über den Kopf schüttet und ein paar Worte sagt, aber was das bedeutet, kann sie noch gar nicht verstehen.
Das müssen ihr irgendwann die Eltern, die Patin und die Großeltern erklären. Auch die Gemeinde, die sie aufgenommen hat, spielt dabei eine Rolle. Effi hat ein Geschenk bekommen, das sich ihr erst im Rückblick erschließen wird.
Ganz ähnlich ging es den Jüngern am Palmsonntag – nein in der ganzen Zeit mit Jesus. Sie verstanden nicht, mit wem sie es zu tun hatten. Jesus zog sie an. Mit seinen Reden über das Gottesreich, mit seinen Wundern, mit seinem Leben, das er einsetzte für Arme, Schwache und Ausgegrenzte, um Gottes Willen zu verkünden. Wie weit er dabei gehen würde, war ihnen nie klar. Bis zum Ende in Jerusalem.
Am heutigen Palmsonntag beginnt die Karwoche. Jesus kommt nach Jerusalem! Jesus zieht nach Jerusalem ein! Es wird ein Triumphzug, wie uns die Evangelien berichten.
Ein Triumphzug, der in ein paar Tagen am Kreuz enden wird, an dem Jesus von der Menschenmenge – sogar von den Jüngern – verlassen wird.
Aber noch strömt die Menge herbei und feiert ihn als König. Sie legt Palmzweige, Zeichen königlicher Würde und militärischer Macht in Israel, auf die Straßen.
Wir hören heute die Geschichte vom Einzug in Jerusalem, wie sie bei Johannes überliefert ist:
12 Als am nächsten Tag die große Menge, die aufs Fest gekommen war, hörte, dass Jesus nach Jerusalem kommen werde, 13 nahmen sie Palmzweige und gingen hinaus ihm entgegen und schrien: Hosianna! Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn, der König von Israel! 14 Jesus aber fand einen jungen Esel und setzte sich darauf, wie geschrieben steht: 15 »Fürchte dich nicht, du Tochter Zion! Siehe, dein König kommt und reitet auf einem Eselsfüllen.« 16 Das verstanden seine Jünger zuerst nicht; doch als Jesus verherrlicht war, da dachten sie daran, dass dies von ihm geschrieben stand und man so an ihm getan hatte. 17 Die Menge aber, die bei ihm war, als er Lazarus aus dem Grabe rief und von den Toten auferweckte, bezeugte die Tat. 18 Darum ging ihm auch die Menge entgegen, weil sie hörte, er habe dieses Zeichen getan. 19 Die Pharisäer aber sprachen untereinander: Ihr seht, dass ihr nichts ausrichtet; siehe, alle Welt läuft ihm nach.
Eine bekannte Geschichte. Eigentlich leicht verständlich. In jedem Evangelium überliefert und sehr gut vorstellbar. Eine Geschichte, die oft erzählt wird, mit kräftigen Bildern.
Wenn ich an Palmsonntag denke, sehe ich klar vor mir ein Bild aus meiner Kees de Kort Kinderbibel. Der nett lächelnde bärtige Jesus sitzt da auf dem Esel und die Menge strömt heraus. Die Szene ist so oft umgesetzt worden, dass sicher auch Sie so ein konkretes Bild vor Augen haben.
Ein König zieht in Jerusalem ein.
Ein König zieht in Jerusalem ein. In der Alten Nationalgalerie in Berlin hängt ein Bild von einem solchen Einzug, das mich beim ersten Sehen, tief bewegt hat. Das Gemälde entstand 1876 durch Wilhelm Gentz und zeigt den preußischen Kronprinzen Friedrich – später Friedrich III., der 99-Tagekaiser –, wie er 1869 in Jerusalem einreitet. Eigentlich war der Kronprinz zur Eröffnung des Suezkanals zu Besuch im osmanischen Reich. Als der Sultan ihm dann aber ein kleines Stück Land in Jerusalem schenkte, auf dem Ruinen des mittelalterlichen Johanniter-Hospiz und eine kleine Kapelle standen, nutzte Friedrich dies gleich zu einem Besuch. Auf diesem Fleck Land steht bis heute die evangelische Erlöserkirche, die aber erst einige Zeit nach dem Jerusalembesuch gebaut wurde.
Das Bild ist natürlich idealisiert und drückt den Machtanspruch und das Selbstverständnis des jungen Kaiserreiches aus. Den weiße Araberhengst, ein Geschenk des Sultans, erhielt Friedrich erst später. Der strahlend weiße mächtige Sieger gegen Frankreich, der Herr Europas und Beschützer des Orients reitet auf einer Straße, die mit Palmwedeln gedeckt ist in Jerusalem ein.
Auf diesem Bild zeigt sich Friedrich als mächtiger König, der Jerusalem in Besitz nimmt und von der Menge gefeiert wird.
Die Masse ruft Jesus auch zu: König von Israel! Die Menge erwartet, dass Jesus nun kommt und sein Königreich aufrichtet – als neuer David wie die anderen Evangelien berichten. Die Jünger hofften das wahrscheinlich insgeheim auch.
Aber Johannes warnt uns: „Das verstanden seine Jünger zuerst nicht.“ Palmsonntag ist doch mehr als der Einzug eines Königs unter anderen. So offensichtlich ist es nicht. Es geht nicht um einen Soldatenkönig unter vielen, sondern um eine andere Art von König.
Ich glaube, am Einzug nach Jerusalem zeigt sich ganz genau, was für eine Art von König Jesus ist. Und für die Jünger war der Einzug Jesu in Jerusalem so ein Ereignis, dessen Bedeutung sich ihnen erst im Rückblick erschlossen hat.
Jesus muss erst durch Tod und Auferstehung gehen, um sich den Menschen in seiner Bedeutung zu erschließen. Und aus der Perspektive des Kreuzes, auf das wir uns diese Woche zubewegen, lassen sich aus dieser Geschichte drei Schlüsse über Jesus ziehen, über sein Königsein.
1 Jesus ist ein König des Friedens
Jesus wehrte sich in seinem Leben immer wieder dagegen als neuer König von Israel zu gelten, als neuer David, als den ihn die Menge erwartet. Im Markusevangelium streitet er das im Tempel sogar einmal ab.
Aber doch stammt er ja der Überlieferung nach aus dem Geschlecht Davids und viele Prophezeiungen, die die Rückkehr des Königs David voraussagen werden auf ihn bezogen.
Jesus wehrt sich aber so stark gegen diese Zuschreibung, weil mit ihr ein Königsbild verbunden wird, das er nicht teilt. David regierte ja durch außergewöhnliches militärisches und diplomatisches Geschick. Vom Schafshirten wird er zum Warlord in den judäischen Bergen und später zum König über Israel. Immer wieder muss er dabei kämpfen und viel Blut vergießen, weshalb erst Davids Sohn Salomo den Tempel in Jerusalem bauen darf. David selbst habe zu viel Blut vergossen.
David selbst eroberte Jerusalem mit Gewalt von den Jebusitern, die damals in dem Land wohnen, wie es im zweiten Samuelbuch heißt. Jesus dagegen zieht ohne Waffen, friedlich in die Stadt ein, deren Führung ihm doch feindlich gesinnt ist. Der Einzug Jesu zeigt, dass Jesus König ist, aber nicht König, der auf Gewalt und Macht setzt, kein Nachfolger Davids und Vorgänger Preußens, sondern ein König des Friedens und der Liebe.
2 Jesus ist ein König in Niedrigkeit
Dann ist für mich im Einzug deutlich, dass Jesus kein König ist, der herrlich entrückt ist. Er reitet nicht auf einem weißen Hengst, in weiß gekleidet wie der Kronprinz nach Jerusalem ein, sondern auf einem Esel, einem einfachen Nutztier. Jesus grenzt sich ganz bewusst von allem königlichen Prunk ab.
Das ist deutlich in seinem ganzen Leben. Jesus zieht als einfacher Wanderprediger und Wunderheiler durch Galiläa und beeindruckt die Leute nicht durch große Gestalt oder gutes Aussehen – über das Aussehen Jesu wird nie etwas gesagt, auch wenn es in der antiken Literatur zum guten Ton gehörte, die Schönheit ihrer Helden zu loben.
Nein, Jesus ist gerade dadurch König, dass er sich zu den Menschen begibt, in ihre Leben hineintritt und es mit ihnen teilt. Dass er aus Liebe zu den Menschen die Leiden in Jerusalem auf sich nimmt, bis zum unvorstellbaren Leiden am Kreuz.
3 Jesus Königtum kommt von Gott
Das dritte, was man aus der Erzählung bei Johannes lernen kann, ist, dass Jesu Vollmacht von Gott kommt. Denn der Grund warum die Menge zu Jesus kommt, ist dass Jesus Lazarus aus dem Grabe gerufen hat, wie der Text am Ende sagt. Dieses anstößigste und herausforderndste Wunder Jesu begeistert hier die Menge, so wie sie uns wohl eher ratlos zurücklässt.
Die Menge vertraute darauf, dass Jesus dies nicht aus sich heraus machen konnte, sondern nur aus Gott heraus. Für die Menge ist das der Beweis, dass Jesus mehr ist als ein Mensch, er selbst und sein Königtum kommt von Gott.
Auch ist Lazarus hier schon ein Ausblick auf Jesus, der selbst nicht tot bleiben wird. Und diese kurze Geschichte vom Einzug in Jerusalem ist ein Vorspiel für die kommende Passion. Hier ist bereits alles sichtbar, was später am Kreuz und am leeren Grab entfaltet wird. Jesus als König des Friedens und der Liebe, Jesus als der, der in die Niedrigkeit aller Niedrigkeiten herabsteigt und Jesus als der, der von Gott kommt, ja selbst Gott ist.
Aber all das verstanden die Jünger hier noch nicht. Sie müssen erst die Karwoche mit Jesus durchschreiten und an Ostern seine Auferstehung erleben.
Und auch ich stelle mich an die Seite der Jünger. Auch ich kann nicht behaupten, dass ich wirklich alles begreife, alles fassen kann, was dieser Text von Jesus ausdrückt. Jesus bleibt ein Geheimnis. Ein Geheimnis darin, dass er sich den Erwartungen der Menschen entzieht, dass seine Wunder uns herausfordern, uns ratlos machen, die Liebe seines Wirkens, das in seinem Tod den Höhepunkt findet, uns aber gleichzeitig berührt.
Was helfen kann, sich diesem Geheimnis anzunähern, ist in der kommenden Woche, diesen Weg Jesu nachzuverfolgen – etwas hier in der Gemeinschaft. Am Gründonnerstag beim Tischabendmahl das Abschiedsessen Jesu mitzuerleben, am Karfreitag am Kreuz zu verharren und sich am Ostersonntag am leeren Grab zu wundern, den Worten Jesu zu lauschen, dass er als der Auferstandene unter uns bleibt, wenn auch nicht mehr leiblich.
Manche Dinge lassen sich nicht direkt erkennen. Es braucht Zeit, um sie in ihrer Wichtigkeit zu erkennen. Der Einzug in Jerusalem war sicher eine solche Sache.
Aber neben dem Blick zurück steht auch immer der Blick nach vorne. Voranschreiten im Leben müssen wir trotzdem. Das mussten die Jünger auch. Voranschreiten dürfen wir auch in die Karwoche und ins Osterfest. Im Glauben daran, dass Jesus wirklich als Sohn Gottes wahrer König der Welt ist – ohne Gewalt und ohne Glanz. Und dass er bei uns ist, bis an der Welt Ende – wie er es verspricht. Dass er uns sein Ja, schon von Beginn unseres Lebens an und immer wieder zuspricht.
So dürfen wir vorangehen im Vertrauen darauf, dass Gott uns immer wieder prägende Momente in unserem Leben schenkt, die unsere Perspektive aufrütteln und uns verändern können.
Und der Friede Gotte, der höher ist als alle Vernunft, bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.