Predigt 21.08.2022, Mt 5,17-20, Israelsonntag

21.8.2022

J.Berewinkel

Jude Jesus Der frühere Rabbiner von Bern erzählt von einer Synagogenführung mit jugendlichen Schülerinnen und Schülern. Eben hatte er – wie immer bei solchen Anlässen – ...

Jude Jesus
Der frühere Rabbiner von Bern erzählt von einer Synagogenführung mit jugendlichen Schülerinnen und Schülern. Eben hatte er – wie immer bei solchen Anlässen – darauf hingewiesen, dass Jesus Jude war.
Einer der Schülerinnen gab das sichtlich zu denken – bis sich ihr Gesicht aufhellte: »Aber, nicht wahr, Herr Rabbiner, jetzt ist er‘s nicht mehr.«

Liebe Gemeinde,
In dieser Abwehr des Judentums Jesu spiegelt etwas.
Es spiegelt sich, wie die christliche Kirche ihr Wesen über Jahrhunderte hin bestimmt hat.

Kirche und Judentum
Trotzdem: Jesus war Jude. Das ist auch heute Gott sei Dank fast schon eine Art Binsenweisheit.

Dann kommen aber oft kritische Fragen: Hat Jesus nicht das Judentum hinter sich gelassen? Sieht man das nicht an der Kirche?

So feiern wir keinen Schabbat mehr, sondern den Sonntag.
Anstelle der Beschneidung die Taufe;
Es gibt keine Speisegebote mehr;
die Tora wird zum Gesetz, das Neue Testament steht dagegen für die Liebe.
Abgeschafft sind Pessach, Wochen- und Laubhüttenfest. Stattdessen haben wir Ostern, Weihnachten und Pfingsten.

Sicher große Unterschiede – viel wurde verändert und transformiert.
Jesus erzählte ja auch den Völkern von Gott und sprach nicht nur zu Israel.
Und dann kam es recht bald nach Jesu Tod und der Auferstehung zur Trennung der Gemeinden, die sich auf Jesus beriefen, vom Judentum. Judentum und Christentum entwickelten sich getrennt weiter. Oft in Konkurrenz zueinander.

Und Christen haben lange behauptet, dass Israel jetzt keine Rolle mehr spielt. Die Kirche ist das neue Volk Gottes und Israel eigentlich egal – oder schlimmer noch Gottesfeind. Mit schrecklichen Folgen.

Aber ich will heute nicht auf die judenfeindliche Geschichte des Christentums schauen – die ist gut bekannt –, sondern auf unseren Bibeltext:

Er steht im ersten Teil der Bergpredigt, der Grundsatzrede Jesu im Matthäusevangelium:

Mt 5,17 Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen.
18 Denn wahrlich, ich sage euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird nicht vergehen der kleinste Buchstabe noch ein Tüpfelchen vom Gesetz, bis es alles geschieht.
19 Wer nun eines von diesen kleinsten Geboten auflöst und lehrt die Leute so, der wird der Kleinste heißen im Himmelreich; wer es aber tut und lehrt, der wird groß heißen im Himmelreich.
20 Denn ich sage euch: Wenn eure Gerechtigkeit nicht besser ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen.

Dieser Text zeigt das Verhältnis von Jesus zu den Schriften des Judentums.
Drei Punkte davon möchte ich herausgreifen.

1. Bewahrung der Wurzel

Kein Buchstabe der Tora oder der Propheten wird vergehen – Jesus setzt am Detail an und bewahrt die Wurzel.

Die Treue zum Detail, zu jedem Buchstaben und jedem Strichlein, gilt also der Tora im Ganzen:
Nicht soll davon verändert werden.

Das ist im Judentum noch heute so: Sie kennen ja sicher Torarollen – die Tora wird bis heute auf Pergamentrollen handschriftlich kopiert.
Eine Torakopie kostet einen Schreiber fast ein ganzes Jahr. Und wenn er sich einmal verschrieben hat – dann muss die ganze Rolle weggeschmissen werden und er muss noch einmal neu anfangen.

Warum macht man sich diese Mühe um ein Buch?
Weil die Tora in der Summe mehr ist als ein Buch:
Die Tora ist die Wurzel des Glaubens an Gott. Und in der Tora beginnt ein großes Gespräch.

Zum einen wendet sich Gott in der Tora immer wieder an die Menschen und spricht mit ihnen, sagt den Menschen, was gut und heilig ist.
Zum anderen führt die Tora auch immer zum Gespräch zwischen den Menschen, was Gottes Wille sein könnte.

Verschiedene Autoren haben an der Tora geschrieben. Sie haben alte Stellen kommentiert und auch kritisch ergänzt. Vormals unabhängige Texte wurden nebeneinandergestellt. Ein ganz buntes Bild von Gott ergibt sich dann daraus.

Jesus macht es sich und uns nicht einfach. Er fordert uns heraus, dass wir uns mit der Tora auseinandersetzen, auch den uns fremden Stellen. Er möchte, dass wir an diesem Gespräch teilhaben – weil wir in allem Gott spüren und an ihm wachsen können.

Und so sind Tora und Propheten die Wurzel aus der Jesus und auch wir direkt von Gott Inspiration und Einsicht schöpfen können. Diese vielfältigen Wurzeln in Gänze zu bewahren, schärft Jesus uns ein.

2. Gottes Wille in der Tora erfüllt sich im Leben
Die Tora soll im Leben erfüllt werden. Wir sollen aus dieser Wurzel und mit ihr wachsen.
Jesus lässt keinen Zweifel daran: Er wird die Tora nicht außer Geltung setzen, sondern erfüllen.

Jesus erscheint an vielen Stellen der Bibel als Lehrer der Halacha – der Lehre auf dem Weg.
Halacha – das kommt von gehen oder Weg – ist, wenn jüdische Lehrer und Lehrerinnen die biblischen Buchstaben, Worte und Verse in Beziehung zu setzen mit den Fragen der Gegenwart.

Dabei werden nicht bloß Aussagen wiederholt, sondern es wird gefragt: Was ist gerade wirklich angemessen? Was soll ich tun?
So sind auch Jesu Worte nicht einfach so als überzeitliche Wahrheiten überliefert, sondern in eine Geschichte, in den Lebensweg Jesu eingebettet.
Jesu Weg führt durch Galiläa und über Umwege nach Jerusalem.
Dabei zitiert er immer wieder in Auseinandersetzungen die Schrift und legt sie so durch sein Handeln aus.

Und gerade dieses Ins-Leben-Hineinnehmen der Weisungen führt dann dazu, dass auch immer wieder Gebote gegeneinander abgewägt werden müssen.

Soll ich diesem Menschen helfen, auch wenn Feiertag ist? Das ist vielleicht das bekannteste Beispiel.

Ich soll nicht töten – aber wie gehe ich damit um, wenn ich oder Freunde angegriffen werde und ich mich verteidigen muss? Oder wenn ich Soldat bin?
Wie lassen sich Situation und Gebot vereinen?

Jesus lädt uns zu dieser Abwägung ein. Wer sich mit der Tora beschäftigt, wächst daran. Und die Tora wird erfüllt, wenn wir mit Jesus an ihr wachsen.

Ich möchte das Bild der Wurzel weiterführen. Wenn Gesetz und Propheten unsere Wurzeln sind, über die wir zusammen mit Jesus Gott aufnehmen und uns ernähren lassen können, dann wächst daraus ein Stamm. Dieser Stamm ist der Glaube, der sich aus den Wurzeln nährt.

Dabei entwickeln wir uns sicher nicht immer gleichmäßig. Auch Bäume haben ja bekanntlich dickere und schmalere Jahresringe – in manchen Jahren ziehen sie mehr Wachstum aus ihren Wurzeln und in manchen Jahren weniger. Manchmal sind auch die Umstände widrig und erlauben kein Wachstum. Manchmal verliert ein Stamm auch seine Stärke.
Und so ist das sicher auch bei uns. Nicht immer wächst unser Stamm schnell – manchmal ziehen wir wenig Nährstoffe aus unseren Wurzeln, manchmal mehr.
Jesus erinnert uns aber daran, in Kontakt zur Wurzel zu bleiben und aus ihr zu wachsen.

3. Gerechtigkeit zeigt sich im Handeln oder: Der Baum soll Früchte tragen
Aus der Liebe zum Detail der Tora entwickelt Jesus schließlich eine Gerechtigkeit, die sich im Handeln zeigt.

Jesus fordert, dass unsere Gerechtigkeit besser ist als die der Pharisäer und Schriftgelehrten.
Dieses „besser“ der Gerechtigkeit kann sehr leicht missverstanden werden. Schnell kann man sagen: Wir Christen sind gerecht und die Juden nicht“.

Aber Jesus sagt nicht, dass die Pharisäer und Schriftgelehrten keine Gerechtigkeit haben.
Der Schriftgelehrte in der Lesung (Lk 10) kann das Höchste Gebot benennen: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft und deinem ganzen Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst.“
Und Jesus sagt dem Schriftgelehrten: „Tu das, so wirst du leben.“

Die Lesung zeigt: Jesus geht es nicht um abstrakte Theorie.
Es geht immer um das Handeln. All die schöne Gelehrsamkeit und alles Wissen sind nicht so wichtig wie das Handeln.
Alles Wissen ist weniger wert als die Sorge umeinander: Das Besuchen von Kranken und Traurigen, das Verbringen gemeinsamer Zeit und die Unterstützung untereinander.

Wer etwas verkündigt, läuft immer Gefahr, dass die eigenen Taten hinter den Worten zurückbleiben. Dass wissen Eltern, Lehrerinnen und Lehrer, Prediger und Schriftgelehrte.
Jesus schärft den Lehrern seiner Zeit und uns ein, Gerechtigkeit zu tun – und zu handeln. Deshalb sind ihm auch das Gesetz und die Propheten so wichtig: Sie geben uns Orientierung, Handeln zu können. In ihnen finden wir Hilfe, Situationen zu bestehen.

Wenn Gesetz und Propheten die Wurzeln sind, aus der wir mit Jesus Gottes Geist schöpfen, und sich aus dieser Wurzel der Stamm unseres Glaubens bildet, dann sagt Jesus: Am Ende sind die Früchte wichtig!

Auch das ist übrigens wieder ein typisch jüdischer Gedanke: Etwas holzschnittartig lässt sich sagen, dass es im Christentum meist um die Orthodoxie, die richtige Lehre, Konflikte gab: Wie war Jesus Gott und Mensch? Wer wird erlöst? Wie sieht das Gericht aus?
Dagegen geht es im Judentum stärker um die Orthopraxie, das richtige Handeln: Wie werden wir im Leben den Geboten gerecht? Müssen wir wirklich alle genauestens befolgen? Wie können wir den Völkern Licht Gottes sein?

Der heutige Predigttext zeigt, dass Jesus ganz im Judentum verwurzelt ist. Jesus war von Geburt bis Tod Jude. Er lebte aus der Schrift Israels als Wurzel seines Glaubens und Handelns. Ihm ging es darum, Gott gehorsam zu sein, Gott und die Mitmenschen mit all seinen Taten zu lieben.

Und mehr: Jesus öffnet den Bund Israels. Er möchte uns Gottes Segen schenken. Darin ist er für uns der Messias, Christus. Der Bringer des göttlichen Segens.

Und so sind auch wir als christliche Kirche dem Judentum als Wurzel besonders verbunden und verpflichtet.
Auch wenn sich Kirche und Judentum nach Jesus historisch sehr unterschiedlich entwickelten, können wir heute gemeinsam mit Israel an Gott und mit Gott wachsen, stark werden, gute Früchte bringen und der Welt ein Segen sein.

Ohne Überlegenheitsgefühle, sondern in Dankbarkeit, auch unter dem Segen des einen Gottes zu stehen und diesen Segen weitergeben zu dürfen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus, Amen