Predigt, 31.12.2022 Ps 31, 16

31.12.2022

J.Berewinkel

Liebe Geschwister, war das Jahr 2022 für Sie eher ein kurzes oder ein langes Jahr? Wenn man sich Zeit nimmt und Rückblick hält, dann wird einem oft ...

Liebe Geschwister,
war das Jahr 2022 für Sie eher ein kurzes oder ein langes Jahr?
Wenn man sich Zeit nimmt und Rückblick hält, dann wird einem oft erst bewusst, was alles in diesem Jahr gewesen ist. So viel Schönes und Gutes. Aber auch viel Schlimmes und Belastendes. Ein volles Jahr.
Und gleichzeitig haben viele Menschen das Gefühl: Wie ist nur die Zeit verflogen!
Schon wieder ein Jahr vorbei.
Es ging so schnell.

Die Zeit verrinnt.

Kürzlich las ich von einem Designer eine kuriose Sache.
Der hat sich eine Uhr bauen lassen, die zeigt an, wie viel Lebenszeit ihm noch bleibt.
Er hat ausgerechnet, was die durchschnittliche Lebenserwartung eines Mannes in seinem Alter ist.
Er war da vielleicht Mitte 40. 82 Jahre Lebenszeit hat er gerechnet. Bleiben noch so 37 Jahre übrig. Das sind soundso viel tausend Stunden, soundso viel Millionen Sekunden. Und die Uhr zeigt an, wie viele ihm noch bleiben. Sie zählt die Sekunden abwärts. Tack, tack, tack. Jede Minute, jeder Tag ein bisschen Lebenszeit weniger.

Das ist doch furchtbar, oder?
Ich glaube, keiner von uns würde sich so eine Uhr aufhängen.

Aber dieses Gefühl: Meine Lebenszeit nimmt ab. Sie verrinnt – das kennen wir, glaube ich, alle.

(Sanduhr zeichnen)
Ich will mal eine andere Art von Uhr zeichnen.
Eine Sanduhr.

Das hier oben, der Sand im oberen Teil der Uhr, das ist unsere Lebenszeit.
Und die verrinnt.
Ganz gleichmäßig.
Sekunde für Sekunde.

Wenn wir so unser Leben betrachten, dann bedeutet jeder Silvestertag: Ein Jahr weniger.
Ein Jahr weniger Lebenszeit, die mir noch bleibt.
Die Zeit verrinnt.
Das ist eine ziemlich deprimierende Perspektive.

Ich bin in diesem Jahr 60 geworden.
Wenn ich so mein Leben anschaue, dann bleibt mir noch vielleicht ein Viertel. Vielleicht ein bisschen mehr oder etwas weniger. Die Hauptlebenszeit ist jedenfalls verronnen.

Wenn wir so auf unser Leben schauen, dann löst das einen Druck in uns aus. Ich habe das Gefühl, ich muss meine Lebenszeit auskosten. Muss rausholen, was rauszuholen ist. Und wir füllen dann die verbleibende Zeit mit möglichst vielen schönen Dingen, Urlauben, Erlebnissen. Das Leben auskosten, so lange es noch geht.

Aber auch der schönste Urlaub geht so schnell vorbei und das Gefühl „Meine Zeit verrinnt“ wird umso stärker.

Es gibt einen Psalmvers, der uns eine ganz andere Perspektive auf unser Leben eröffnet.

Sie kennen diesen Vers vielleicht. Ein Satz aus Psalm 31, 16:
„Ich aber, Herr, hoffe auf dich und spreche: Du bist mein Gott. Meine Zeit steht in deinen Händen.“
Im hebräischen Text steht kein Verb. Da heißt es wörtlich: In deinen Händen meine Zeit.
Wie verstehen Sie das:
In deinen Händen meine Zeit?
Was könnte das bedeuten?

Vielleicht will der Psalmschreiber damit ausdrücken, dass Gott der Geber der Zeit ist. Dass die Zeit von ihm kommt. Also:

Meine Zeit kommt aus deinen Händen

Gott hat die Zeit geschaffen, so wie er den Raum geschaffen hat. Zeit ist nicht einfach da. Sie ist nicht ewig, sondern sie ist von Gott geschaffen. Und Gott schenkt jedem Geschöpf Lebenszeit. Er schenkt dir deine Lebenszeit.
Und jeder Tag ist wie ein neues Geschenk.

Darum ist dieser obere Teil der Uhr ganz irreführend. Ich habe kein Guthaben an Lebenszeit.
Ich habe keinen Anspruch auf 80 Jahre.
Es gibt zwar Durchschnittswerte, aber wie viel Lebenszeit mir gegeben ist, das weiß ich einfach nicht. Ich kann morgen tot sein.
Dieses scheinbare Guthaben hier oben gibt es gar nicht.
Und darum kann es auch nicht weniger werden.

Wenn wir schon unsere Lebenszeit mit dieser Sanduhr vergleichen, dann sollten wir diesen unteren Bereich anschauen:

Das hier ist mein Leben.
Jede Stunde Leben ist ein Geschenk.
Jeder neue Morgen kommt aus Gottes Hand.
Und darum ist jeder Tag ein Tag mehr.
Und jedes Jahr ein Jahr mehr.

Meine Zeit kommt aus deinen Händen.
Wenn wir so unser Leben betrachten, dann entsteht eine tiefe Dankbarkeit.
Dann habe ich nicht mehr den Druck, möglichst viel aus diesem Leben rauszuholen.
Und ich habe auch nicht mehr dieses schmerzhafte Gefühl: Ich verliere etwas, wenn die Zeit vergeht.

Sondern ich kann staunen und mich freuen an jedem neuen Tag, der mir geschenkt wird.
Wir fühlen uns reich und beschenkt, wenn wir so unser Leben betrachten.
Und jeden Morgen kannst Du Gott sagen: Vielen Dank für diesen neuen Tag! Ich empfange ihn als dein Geschenk aus deiner Hand!

Meine Zeit kommt aus deinen Händen!


In dem Psalmvers könnte aber auch noch eine weitere Aussage stecken:
Er könnte auch bedeuten:

Meine Zeit bleibt in deinen Händen!

Wir haben ja das Gefühl: Die Zeit, die vergangen ist, die hinter mir liegt, die ist weg. Sie ist verschwunden. Was gestern passiert ist, das ist nicht mehr da. Es ist versickert im Nichts.
Vergangenheit ist verlorene Zeit.

Ich glaube, dass das nicht stimmt.
Meine Lebenszeit versickert nicht im Nichts, sondern sie wird aufbewahrt.

Auch das wird ja auf diesem Bild hier deutlich:
Die Gegenwart ist nur diese ganz schmale Stelle in der Sanduhr. Das da oben ist die Zukunft.
Alles hier unten ist die erlebte Lebenszeit.

Die ist eine Realität. Sie ist nicht einfach weg, sondern aufbewahrt. Aufbewahrt in Gottes Händen.

Gott ist ja außerhalb unserer Zeit. Für ihn ist die Vergangenheit nicht verschwunden, nicht weg, sondern gegenwärtige Wirklichkeit.

Wenn du eines Tages stirbst und vor Gott stehst, dann wirst Du da nicht als der stehen, der du gerade im Moment des Todes bist. Sondern du wirst vor Gott stehen mit deiner kompletten Lebensgeschichte. Die gehört ja zu dir wie dein Kopf und deine Füße zu dir gehören.

Deine Vergangenheit ist nicht weg, sondern sie ist ein Teil von dir:
All das Schöne, was du erlebt hast.
Alles, was du geschaffen hast.
Alle Beziehungen, die du gestaltet hast.
Auch alles Schmerzhafte, alle Tränen, alle Verluste.

Die vergangene Zeit ist aufbewahrt.
Sie ist dein Lebensreichtum.

Sie ist aufbewahrt in unseren Erinnerungen.
Und es ist gut, wenn wir diese Erinnerungen pflegen.
Wenn wir bewusst am Ende eines Tages oder am Ende eines Jahres die Dinge wieder aufsteigen lassen. Mit Dankbarkeit für die schönen Erlebnisse. Mit Trauer für das Schmerzhafte.

Aber die Vergangenheit ist nicht nur in den Erinnerungen da, sondern sie bleibt aufbewahrt in Gottes Händen.
Und darum ist es gut, wenn wir diese Erinnerungen bewusst an Gott übergeben. So wie wir das eben gemacht haben. Er hält das, was war, in seinen Händen fest.

Meine Zeit kommt aus deinen Händen.
Meine Zeit bleibt in deinen Händen.

Wenn wir so unser Leben sehen, dann können wir gelassen von einem Jahr ins andere gehen.
Der Glaube an den Gott der Zeit gibt heitere Gelassenheit.

Hans-Dieter Hüsch hatte kurz vor seinem Tod ein Gedicht geschrieben, das sehr bekannt geworden ist. Das hat bei uns in der Rheinischen Kirche fast schon kanonischen Rang eingenommen hat. Und das bringt diese Haltung wunderschön zum Ausdruck:

„Ich bin vergnügt, erlöst, befreit;
Gott nahm in seine Hände meine Zeit,
mein Fühlen, Denken, Hören, Sagen,
mein Triumphieren und Verzagen,
das Elend und die Zärtlichkeit.“

Und der Friede Gottes …