Predigt, 4.9.2022 Apostelgeschichte 9, 1-20

4.9.2022

J.Berewinkel

Liebe Geschwister, stellen Sie sich vor, Präsident Selensky hätte einen Traum. Ein Engel erscheint ihm, sehr deutlich, sehr real, und sagt zu ihm: Wolodymyr, fliege nach ...

Liebe Geschwister,
stellen Sie sich vor, Präsident Selensky hätte einen Traum. Ein Engel erscheint ihm, sehr deutlich, sehr real, und sagt zu ihm: Wolodymyr, fliege nach Moskau. Geh in den Kreml und suche Präsident Putin auf. Er ist jetzt bereit Frieden zu schließen.
Stellen Sie sich vor, Selensky würde sich tatsächlich auf den Weg in den Kreml machen. Wie würde er sich da wohl fühlen? Was für Gedanken würden ihm auf dem Weg durch den Kopf gehen?
Was würde Ihnen wohl durch den Kopf gehen, wenn Sie an seiner Stelle wären?

So ähnliche Gedanken und Gefühle wird vermutlich Hananias gehabt haben, als er auf dem Weg zu Saulus war.
Er hatte eine Erscheinung gehabt. Jesus, der Auferstandene, war ihm begegnet. Wir haben es vorhin in der Lesung gehört. Der Herr hatte ihm gesagt: Geh in das Haus, wo Saulus zu Gast ist und lege diesem Mann die Hände auf!
Und Hananias ist tatsächlich losgegangen.
Jetzt läuft er da die Gerade Straße in Damaskus entlang.
Es ist eine bekannte Straße quer durch die Altstadt von Damaskus. Auf der Straße ist viel los: Händler legen ihre Ware aus. Leute kaufen ein. Kinder spielen. Dazwischen Hananias. Er geht langsam, zögernd. Immer wieder bleibt er zwischen den eiligen Leuten stehen.
In ihm tobt ein Kampf.
Was mache ich hier überhaupt?
Ist das nicht Wahnsinn?

Es hatte sich schon vor ein paar Tagen herumgesprochen, dass dieser Saulus nach Damaskus kommen würde. Man hörte, dass er alle Jesusanhänger aufspüren will. Er will sie gefangen nach Jerusalem bringen. Man wusste, dass dieser Saulus ein harter Hund ist, ein Mensch voller Hass auf die Christen.
Und jetzt, fragt sich Hananias, jetzt soll ich mich freiwillig in seine Hände begeben?
Hab ich mir das nicht vielleicht doch nur eingebildet, dass der Herr mir diesen Auftrag gibt?

Da schleicht also Hananias die Gerade Straße entlang und hat diese Gedanken im Kopf.
Und zur gleichen Zeit, keine hundert Meter weiter, sitzt Saulus in seinem Gästezimmer. Schon drei Tage sitzt er da, hat sich eingeschlossen, will keinen sehen, will nichts essen, nichts trinken.
Und auch in seinem Kopf tobt es.
Was er da vor drei Tagen erlebt hat, das hat alles komplett auf den Kopf gestellt. Sein ganzes Leben.

Bis zu diesem Moment war sein Leben auch eine gerade Straße gewesen, eine schnurgerade Linie. Alles lief nach Plan.
Er kommt aus guten Verhältnissen. Die Eltern sind wohlhabend und fromm. Sie leben ihm den jüdischen Glauben vor. Saulus ist intelligent und ehrgeizig, ein Karrieretyp. Als junger Mann zieht er von Tarsus nach Jerusalem. Dort macht er eine Ausbildung bei den berühmtesten Rabbinern. Sein Weg ist klar vorgezeichnet: Er wird einer der großen jüdischen Lehrer werden. Er hat einen brillanten Verstand, enormes theologisches Wissen und einen brennenden Glauben.
Und er ist fest überzeugt, dass er zu Guten gehört, dass er auf der richtigen Seite steht.
Dass Jesus hingerichtet wurde, das fand er richtig. Für ihn war Jesus ein Betrüger und Irrlehrer, einer, der die Leute vom wahren Glauben abbringt.
Und darum versucht er alles, um diese Jesusbewegung auszurotten. Er hat überhaupt kein schlechtes Gewissen dabei. Denn er tut es doch für Gott. Da ist er sich völlig sicher.

Und dann war vor drei Tagen diese Sache passiert.
Plötzlich war da dieses gleißende Licht und diese Stimme: Saul, Saul, warum verfolgst du mich?

Er erlebt, dass Jesus zu ihm spricht: Ich bin Jesus, den du verfolgst.

Wir sind ja bei solchen Berichten immer etwas skeptisch. Wenn uns einer erzählt, dass er eine Erscheinung hatte, dass Gott zu ihm gesprochen hat, dann sind wir da ja sehr zurückhaltend – zu Recht.

Und wenn wir hier so einen Bericht lesen, dann denken wir vielleicht: Jo, schöne Geschichte. Wer weiß, ob das stimmt. Ist vielleicht doch nur eine Legende.

Aber Saulus, der sich dann später Paulus nennt, der hat Briefe geschrieben. Und in diesen Briefen schreibt er dasselbe: Der Herr ist mir erschienen. Er hat sich mir offenbart.
Natürlich kann man auch versuchen, das Ganze zu psychologisieren: Na ja, der Paulus steckte vielleicht in einer Lebenskrise oder er hatte auf der Reise nach Damaskus einen Sonnenstich bekommen und halluziniert.

Aber nach dem, was Paulus selber schreibt, steckte er in überhaupt keiner Krise. Im Gegenteil! Er war im Höhenflug. Und er war sich seiner Sache völlig sicher, völlig überzeugt, dass er das Richtige tut.

Die Psychologie lehrt uns ja, dass wir Menschen Meister im Verdrängen sind. Was wir nicht wahrhaben wollen, das schieben wir beiseite.
Und Paulus wollte definitiv überhaupt nichts mit Jesus zu tun haben. Mit jeder Gehirnzelle wehrte er sich gegen den Gedanken, dass er falsch liegen könnte. Es ist extrem unwahrscheinlich, dass er sich eine Erscheinung von Jesus eingebildet hat.

Da muss vor Damaskus etwas sehr, sehr Einschneidendes passiert sein. Saulus muss da etwas erlebt haben, das so drastisch und so klar war, dass für ihn kein Zweifel bestand, dass wirklich Jesus zu ihm geredet hat.

Und diese Einsicht war wie ein Dominostein, der eine ganze Kette von Steinen umwirft:
Wenn Jesus da vom Himmel zu mir spricht, dann ist er jetzt bei Gott.
Dann ist er tatsächlich auferstanden.
Dann ist dieser Mann, der vor wenigen Monaten hingerichtet wurde, gar kein Betrüger und Gotteslästerer.
Dann ist ja das, was er von sich sagte, wahr.
Dann ist er wirklich Gottes Sohn.

Alles, was ich über ihn gedacht habe, war verkehrt.
Und alles, was ich gegen die Christen unternommen habe, war verkehrt.
Ich hab gar nicht für Gottes Sache gekämpft, sondern gegen ihn.
Ich dachte, ich bin so moralisch, bin so korrekt und kann vor Gott glänzen. Und ich Wahrheit bin ich völlig verblendet gewesen, hab mich völlig verrannt.
Saulus hockt da in seinem Gästezimmer und in seinem Kopf rattert es ohne Ende. Sein Selbstbild, sein Gottesbild, seine Werte und Ziele – alles purzelt durcheinander.

Sich das einzugestehen, dass man auf dem völlig falschen Dampfer ist, das ist sehr schmerzhaft.
Vielleicht kennen ja manche von Ihnen solche Momente, wo man merkt: ich bin auf dem falschen Weg. Ich hab mich verrannt.
Das tut richtig weh. Das macht man nicht gerne.

Wenn Saulus die Chance gehabt hätte, sein Erlebnis vor Damaskus anders zu deuten, dann hätte er das bestimmt getan. Aber offenbar konnte er das nicht. Es war zu klar.

Aus meiner Sicht spricht alles dafür, dass das, was Lukas da berichtet, wirklich so passiert ist; dass Saulus wirklich eine Begegnung mit dem auferstandenen Jesus gehabt hat. Dass Jesus aus dem Himmel zu ihm gesprochen hat.

Zwischen unserer Welt, der materiellen, räumlichen Welt, und der Welt Gottes gibt es eine Grenze. Das ist eine andere Dimension und wir haben keinen Zugang dahin. Wir nehmen normalerweise nichts von Gott, von Jesus wahr. Das scheint alles weit weg zu sein. Aber in Wirklichkeit ist Gott, ist Jesus uns viel näher als wir es empfinden.
Da ist nur ein hauchdünner Vorhang zwischen uns und ihm. Und manchmal berührt er diesen Vorhang und macht sich bemerkbar.
Bei Saulus ist das sehr drastisch passiert.
Aber auch heute passiert so etwas manchmal.

Ich habe vor ein paar Tagen einen Bericht von einer Pfarrerin gelesen. Die erzählt da von einem sehr interessanten Gespräch, das sie geführt hat. Es war nach einer Beerdigung beim Kaffeetrinken. Da saß sie gegenüber einem Mann, den sie nicht kannte. Der sagte: Ich sitze selten mit Pfarrern zusammen. Aber jetzt, wo ich einer Pfarrerin gegenübersitze, muss ich Sie doch mal etwas fragen. Vor einigen Jahren habe ich etwas erlebt, das habe ich noch niemandem erzählt außer meiner Verlobten.
Ich wurde mitten in der Nacht wach und ich spürte eine Kälte und etwas Böses, Dunkles. Ich fühlte dann einen starken Schmerz im Herzen, als würde es zusammengepresst.
Ich war wirklich wach und spürte diesen Schmerz ganz deutlich. Und dann kamen Worte aus mir heraus – ich weiß nicht, woher ich diese Worte hatte. Ich hörte mich sagen: Hilf mir, Jesus!
Und sofort war da ein helles Licht um mich herum und ich sah an der Wand ein Bild und wusste, dass es Jesus ist, obwohl es überhaupt nicht so aussah wie die Bilder von Jesus, die ich kannte.
Und dann war ich auf einmal völlig ruhig. Völlig schmerzfrei und glücklich. Können Sie mir erklären, was das bedeutet?

Der Mann war Manager in einer Computerfirma. Ein sehr rationaler Mensch, der sich an der Wissenschaft orientiert.
Später fand man an seinem Herzen Narbengewebe. Er hatte in dieser Nacht wohl einen Herzinfarkt erlebt und überlebt.
Und er hat in diesem lebensbedrohlichen Moment erlebt, dass sich Jesus bemerkbar macht, dass er in sein Leben hineinwirkt und sein Leben bewahrt hat.

Ich kenne Menschen, die so etwas Ähnliches erlebt haben. Die ein Licht gesehen haben, die Gottes Nähe auf ganz deutliche Weise gespürt haben. Das gibt es.

Ich selber habe das so krass noch nie erlebt. Leider. Das wäre ja für den eigenen Glauben wirklich schön und stärkend. Aber so deutliche, sichtbare Erscheinungen sind doch wohl sehr selten. Vielleicht war es bei Saulus besonders nötig, weil er sonst nicht die Kurve gekriegt hätte.

So krass und deutlich zeigt sich Jesus nur selten. Aber manchmal macht er sich ganz zart bemerkbar. Da kann man etwas ahnen von seiner Nähe und man spürt, dass er wirklich da ist. Ganz nah, direkt hinter dem Vorhang.

Wir können so etwas nicht machen, aber wir können offen sein für solche Begegnungen. Wir können ihn ansprechen, uns ihm aussetzen. Wir können Orte aufsuchen, wo wir zur Ruhe kommen und wo wir unsere Antennen ausfahren.

Gleich feiern wir das Abendmahl. Auch das kann so eine Gelegenheit sein, wo Er sich bemerkbar macht und wir vielleicht etwas von seiner Nähe spüren.

Aber jetzt kehren wir erst noch mal zurück zu Hananias.
Der schleicht noch immer die Gerade Straße entlang.
Der war ja auch offen für Jesus, bereit, seiner Ansage zu folgen. Mit Angst und Zweifeln bestimmt, aber er geht; geht weiter. Er findet dieses Haus, fragt nach Saulus, tritt in sein Zimmer.
Und weil er so dem Wink von Jesus gefolgt ist, erlebt Hananias etwas, das er sein ganzes Leben nicht mehr vergessen wird:

Er sieht Saulus da auf Knien auf dem Boden, betend, blind, verwirrt.
Hananias sieht, wie durch Gottes Eingreifen ein Mensch völlig verändert wird:

Ein verhärteter, fanatischer Mensch kehrt um.
Aus dem Jesus-Verfolger wird ein Jesus-Nachfolger.
Aus dem selbstgerechten Moralisten wird ein Mensch, der aus Gnade lebt.
Und aus dem Feind, vor dem man Angst hat, wird ein Bruder, den man lieb hat.

Zwischen Gottes Welt und unserer Welt ist keine Stahltüre, sondern nur ein hauchdünner Vorhang.
Wenn wir unsere Seele offenhalten für Gott, für Jesus, dann können wir hier und da etwas von seiner Nähe merken.
Und dann können wir auch heute noch erleben, wie seine Kraft Menschen verwandelt.

Amen.