Liebe Geschwister,
Oscar Wilde sagte mal: „Ich kann allem widerstehen – außer der Versuchung“. Er sagte das natürlich mit einem Schmunzeln. Und wir schmunzeln auch. „Versuchung“ – das klingt ja in unseren Ohren ziemlich harmlos: Nach einem Stück Torte, das uns anlacht, einem PS-starken Auto oder nach einer hübschen Dame mit wenig Bekleidung.
Wenn in der Bibel von Versuchung die Rede ist, dann hat das einen ganz anderen Klang. Bei Versuchung geht es um Leben und Tod. Es geht um alles.
Als der Krieg gegen die Ukraine gerade ausgebrochen war, haben die Amerikaner Präsident Selensky ein Angebot gemacht. Sie haben ihm angeboten, ihn und seine Familie aus Kiew auszufliegen und so in Sicherheit zu bringen.
Ich nehme an, das war für ihn eine Versuchung. Er wusste ja, dass die russische Armee es auf ihn abgesehen hat, dass sein Leben in allergrößter Gefahr ist. Wer könnte ihm das verdenken, wenn er versucht, die eigene Haut zu retten, die eigene Familie zu schützen!
Präsident Selensky hat dieses Angebot abgelehnt; hat der Versuchung widerstanden. Hätte er anders gehandelt, hätte er sich ausfliegen lassen, dann hätte er damit seine Aufgabe als Präsident verraten, seine Werte und sein Volk. Der SPIEGEL hat dazu letzte Woche geschrieben: „Er kann und sollte nicht anders handeln. Das, wofür er steht, wiegt schwerer als sein eigenes Leben.“
Hier wird deutlich: Eine Versuchung ist nichts Harmloses. Bei einer Versuchung geht es darum, ob wir unsere Lebensbestimmung, unsere Berufung erfüllen oder verraten.
Genau darum ging es auch bei der Versuchung von Jesus. Wir haben das vorhin in der Schriftlesung gehört. Sie steht ganz am Anfang von dem öffentlichen Wirken von Jesus, gleich nach seiner Taufe. Da hat Jesus seine Berufung erhalten. Jesus wusste, dass er von Gott kommt, Gottes Sohn ist. Er wusste, dass er einen Auftrag hat, nämlich uns Menschen wieder mit Gott zusammenzubringen. Das Ziel ist, dass die zerbrochene Beziehung zwischen uns Menschen und Gott wieder heil wird und zwar indem wir uns Jesus als Herrn und Erlöser anvertrauen. Und er wusste auch, dass der Weg dahin durch schweres Leiden gehen wird. Das war seine Bestimmung.
Und dann kommt die Versuchung.
Der Teufel, der Gegenspieler Gottes, probiert, ihn von diesem Weg abzubringen. Er versucht, ihn dazu zu bringen, seine Bestimmung zu verraten.
Er tut das auf drei verschiedene Weisen.
Jesus hatte in der Wüste gefastet. Er hat Hunger. Und der Teufel sagt ihm: Wenn du wirklich Gottes Sohn bist, dann kannst du doch Wunder tun. Mach doch einfach aus den Steinen hier Brot und still deinen Hunger!
Das ist ja nichts Verkehrtes, dass man seinen Hunger stillen will. Und wenn man die Möglichkeiten hat – why not? Warum soll man Hunger leiden, wenn man doch das Problem so schnell lösen könnte?
Aber Jesus wusste: Es wäre jetzt verkehrt. Ich würde damit meine Macht falsch einsetzen. Es wäre ein Machtmissbrauch, um die eigenen Bedürfnisse zu befriedigen. So etwas kennen wir ja zur Genüge. Jesus wusste: Meine Aufgabe ist es, ganz von dem zu leben, was Gott mir schenkt. Und so sagt er Nein zu dieser Versuchung und hält den Hunger aus.
Dann führt ihn der Teufel im Geist auf die höchste Stelle des Tempels in Jerusalem und sagt ihm: Wenn du wirklich Gottes Sohn bist, dann spring doch von hier runter. Gottes Engel werden dich auffangen, das hat Gott doch versprochen.
Das wäre eine Riesenshow geworden. Auf dem Tempelplatz waren immer hunderte von Menschen. Alle würden das sehen, wie Jesus von da ganz oben springt und spektakulär gerettet wird. Man denkt da ja unwillkürlich an irgendwelche Marvelfilme, wo jemand von einem Hochhaus stürzt und dann von einem Superhelden gerettet wird – vor den Augen einer staunenden Menschenmenge.
Jesus hätte mit so einer Show viele Menschen beeindrucken können. Er hätte mit einer einzigen Aktion viele dazu bringen können, dass sie ihm vertrauen; ihm glauben, dass er Gottes Sohn ist.
Aber Jesus sagt „Nein“ dazu. Es wäre verkehrt. Es wäre falsch, das Vertrauen der Menschen durch Tricks und Spektakel zu gewinnen. Das wäre gegen seine Berufung.
Dann kommt die dritte Versuchung. Dieses Mal führt der Teufel Jesus auf einen hohen Berg. In einer Vision zeigt er ihm alle Reiche und ihre Herrlichkeit: All die Armeen, all den Prunk, all die Macht. Das alles gebe ich dir! Du kannst alle Macht haben. Alle werden dich verehren, dich anbeten. Du brauchst dafür nur eine Klitzekleinigkeit tun: Fall vor mir nieder und bete mich an!
Und wieder sagt Jesus „Nein“!
Er will ja tatsächlich, dass alle Menschen ihm vertrauen und ihn verehren. Es ist das Ziel, ist seine Berufung. Aber nicht so! Nicht auf diesem Weg. Nur Gott gehört die Anbetung.
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Bei allen drei Versuchungen geht es eigentlich um ein Thema. Die Versuchung besteht darin, eine Abkürzung zum Ziel zu nehmen. Eine alternative Route, auf der man Leid und Schmerz vermeidet.
Heute ist der erste Sonntag in der Passionszeit. Jesus wusste, dass er einen Passionsweg, einen Leidensweg gehen muss. Ich glaube, er wusste schon sehr früh, dass es seine Bestimmung ist, sich ganz hinzugeben, bis in den Tod, um uns mit Gott zu verbinden.
Und jetzt bietet sich hier scheinbar eine bequeme Alternative. Du kannst doch dein Ziel erreichen auch ohne Leiden! Es muss doch gar nicht so schwer sein! Mach es dir doch ein bisschen bequemer!
Jesus widersteht der Versuchung. Und er geht den schweren Weg.
Das spricht doch sehr deutlich in unser Leben hinein!
Wir leben ja in einer Gesellschaft, wo alles darauf ausgelegt ist, Leiden zu vermeiden. Wenn wir Schmerzen haben, nehmen wir Tabletten. Wenn wir frieren, drehen wir sofort die Heizung hoch. Wenn etwas anstrengend wird, lassen wir es bleiben. Wer Schmerz länger aushält als unbedingt nötig, ist doch ein Idiot!
Und es stimmt ja: Leiden ist nichts Gutes. Wir sind keine Masochisten und darum sollen wir Schmerzen natürlich vermeiden.
Das ist doch klar. Normalerweise.
Aber es gibt Situationen, wo man ein Ziel nur erreichen kann, wenn man bereit ist, Leid auf sich zu nehmen.
So war es bei Jesus. Es gab keinen shortcut zur Auferstehung. Er musste diesen Passionsweg gehen.
So geht es auch gerade den Menschen in der Ukraine. Wer Freiheit und Demokratie erhalten will, muss jetzt bereit sein, einen schmerzhaften Weg zu gehen.
Und auch in unserem Leben wird es Situationen geben, wo wir unsere Werte, unsere Ziele, unsere Berufung nur festhalten können, wenn wir bereit sind, dafür auch Leid zu ertragen.
Und die Versuchung besteht darin, dass wir unsere Werte, unsere Berufung zu verraten, um Leid zu vermeiden.
Das fängt schon im Kleinen an.
Wenn Du eine bestimmte Prüfung in der Schule oder an der Uni schaffen willst, dann ist das mit Lernen verbunden. Und das ist ja kein Spaß. Da muss man sich ein kleines bisschen quälen, um das Ziel zu erreichen.
Die Versuchung besteht darin, dass man sich ein Spickzettel macht oder sonst einen Trick ausdenkt. Eine schmerzfreie Abkürzung, die scheinbar zum Ziel führt. Aber letztlich kommt man so nicht wirklich ans Ziel.
Oder ein anderes Beispiel:
Wenn es in einer Ehe Probleme gibt, dann muss man als Ehepaar miteinander sprechen, unter 4 Augen, evtl. auch mit Hilfe von außen. Solche Konfliktgespräche sind mühsam. Das bedeutet ein Stück Leiden.
Dann kommt die Versuchung: Man kann doch solche anstrengenden Gespräche auch vermeiden! Wir weichen dem Partner einfach aus. Jeder macht sein Ding. Wir schweigen uns an und wenn es nicht mehr geht, dann trennen wir uns eben.
So kann man Schmerz vermeiden, aber die Bestimmung, die wir als Ehepartner haben, unser Trauversprechen – das verraten wir.
Oder: Du merkst, dass deine Beziehung zu Gott nicht zum Besten steht. Eigentlich, das merkst du, sollte ich Gott nicht mehr ignorieren und ihn am Rand meines Lebens stehen lassen. Eigentlich müsste ich mich auf Gott zubewegen und das Thema ernsthaft angehen. Aber das ist anstrengend. Wenn ich an Gott denke, dann kommen immer die ganzen peinlichen Sachen in meinem Leben hoch und dann müsste sich ja in meinem Lebensstil so einiges ändern.
Und dann ist die Versuchung da, die mir sagt: Ach, wie das mit Gott ist, das weiß man ja sowieso nicht so genau. Denk nicht so viel nach, sondern guck lieber, was bei Netflix läuft!
Und so verraten wir unsere Bestimmung, zu echten Kindern Gottes zu werden.
Ein letztes Beispiel:
Wir leben in einem freien Land. Wir können sagen, was wir wollen; glauben, was wir wollen und können unsere Werte leben, ohne dass uns das jemand verbietet. Ich hoffe sehr, dass das so bleiben wird.
Aber wir sehen in der Ukraine, wie schnell sich das ändern kann. Und ich glaube, uns allen dämmert gerade, dass Freiheit und Sicherheit und Wohlstand nicht mehr selbstverständlich sind, auch bei uns nicht. Es könnte sein, dass wir eines Tages vor der Frage stehen: Bin ich bereit, für meine Werte, für meinen Glauben, für meine Freiheit Opfer zu bringen?
Die Versuchung wird sein, den bequemen Weg zu wählen, dem Leiden auszuweichen und unsere Überzeugungen, unsere Berufung zu verraten.
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In welcher Versuchung stehen Sie, stehst du gerade?
Das ist ja nicht immer so offensichtlich. Und bei jedem sieht es anders aus. Aber es ist wichtig, sich darüber klar zu werden: Wo bin ich gefährdet, den richtigen Weg zu verlassen, um Leiden zu vermeiden? Wo stehe ich in der Gefahr, meine Werte, meinen Glauben, meine Berufung aus Angst oder Bequemlichkeit zu verraten?
Und dann ist es wichtig, dass wir unseren Willen fest machen, dass wir den Teufel und seine Versuchungen in die Schranken weisen und uns entscheiden: Ich will den richtigen Weg gehen, auch wenn es Schmerzen bringt.
Jesus macht es vor. Er geht voran, und ich geh hinter her.
Amen.