Predigt, G-MIT, 10.11.2024 Thema Sehnsucht

10.11.2024

J.Berewinkel

Ihr Lieben, letzte Woche sind manche Sehnsüchte bitter enttäuscht worden. Die Sehnsucht nach einer Trump-freien Welt. Die Sehnsucht, dass sich unsere Regierung endlich zusammenrauft und Perspektiven für das ...

Ihr Lieben,
letzte Woche sind manche Sehnsüchte bitter enttäuscht worden.
Die Sehnsucht nach einer Trump-freien Welt.
Die Sehnsucht, dass sich unsere Regierung endlich zusammenrauft und Perspektiven für das Land entwickelt.
Die Sehnsucht, dass Pogrome gegen Juden der Vergangenheit angehören.
Die Sehnsucht, dass die Europäer Geschlossenheit zeigen und mutige Schritte gehen.

Sehnsüchte können Rückschläge erhalten. Das ist so. Leider. Aber damit werden sie nicht ausgelöscht.

Vielleicht muss man unterscheiden zwischen unseren Wünschen und unserer Sehnsucht. Die Wünsche sind konkret und können platzen. Der Wunsch, dass gemäßigte Kräfte die Wahl in den USA gewinnen, hat sich nicht erfüllt.
Aber hinter den Wünschen steckt eine tieferliegende Sehnsucht. Und die vergeht nicht, auch wenn ein Wunsch geplatzt ist.

(F: Seerose)
Unsere Wünsche sind wie die Blüten einer Seerose. Die sind sichtbar, liegen an der Oberfläche. Sie blühen und sie vergehen.

Aber im Verborgenen darunter, da ist die Sehnsucht, die eigentliche Pflanze. Die bleibt.

Sehnsucht – das ist ein Kennzeichen dieser Welt.

Wir haben vorhin zwei Sehnsuchtstexte aus der Bibel gehört. Ich möchte Euch noch einen dritten Text vorlesen. Ein paar Sätze, die Paulus im Brief an die Römer schreibt. Da sagt er, dass die Sehnsucht ein Markenzeichen der Christen ist. Aber nicht nur der Christen, sondern ein Markenzeichen aller Menschen, dass sie sogar ein Kennzeichen der ganzen Schöpfung ist.

Ich lese aus Röm 8, 18-23:
(F: Text)
„Ich bin überzeugt: Das Leid, dass wir gegenwärtig erleben, steht in keinem Verhältnis zu der Herrlichkeit, die uns erwartet. Gott wird sie an uns offenbar machen. Die ganze Schöpfung wartet doch sehnsüchtig darauf, dass Gott die Herrlichkeit seiner Kinder offenbart. Denn die Schöpfung ist der Vergänglichkeit unterworfen, allerdings nicht durch eigene Schuld. Vielmehr hat Gott es so bestimmt. Damit ist aber eine Hoffnung verbunden. Denn auch die Schöpfung wird befreit werden aus der Sklaverei der Vergänglichkeit. Sie wird ebenfalls zu der Freiheit kommen, die Gottes Kinder in der Herrlichkeit erwartet. Wir wissen ja: die ganze Schöpfung seufzt und stöhnt vor Schmerz wie in Geburtswehen – bis heute. Und nicht nur sie: uns geht es genauso! Wir haben zwar schon als Vorschuss den Geist Gottes empfangen. Trotzdem seufzen und stöhnen auch wir noch in unserem Inneren, denn wir sehnen uns ebenso danach, dass Gott uns endgültig als seine Kinder annimmt. Dabei wird er auch unseren Leib von der Vergänglichkeit erlösen.“

Die ganze Schöpfung kennt die Sehnsucht. Sehnsucht, von der Vergänglichkeit befreit zu werden.
Der römische Dichter Vergil ahnte das. Der schrieb im 1. Jahrhundert vor Christus: „Sunt lacrimae rerum“ – es gibt Tränen in allen Dingen.
Wenn man die Augen einer Gazelle sieht, die vom Löwen gepackt wurde – dann kriegt man eine Ahnung von dieser Sehnsucht der ganzen Schöpfung.

Sehnsucht. In der Psychologie wird die Sehnsucht als ein „bitter-süßes“ Gefühl beschrieben. Die Sehnsucht ist süß, weil das, was man sich ersehnt, so schön ist. Und sie ist zugleich bitter, weil man das Ersehnte nicht hat, noch nicht hat.

(F. Sehnsucht wonach)
Wonach sehnen wir uns?

Wenn man den Begriff „Sehnsucht“ googelt und nach Bildern sucht, dann tauchen da vor allem Wünsche und Träume auf:

Der Traumpartner, mit dem ich das Leben teilen kann.
Ein paradiesischer Urlaubsort, wo alles schön und entspannt ist.
Weites Meer oder majestätische Berge, warme Sonne oder eine Schneelandschaft.
Der Traum von großem Erfolg im Beruf, von Anerkennung und Wertschätzung.
Das Traumhaus, wo alles schön und neu ist.

Aber das sind alles die Blüten der Seerose. Was steckt dahinter? Was ist die eigentliche Sehnsucht?

Überlegt doch mal für Euch: Was wünsche ich mir eigentlich im allertiefsten für mein Leben? Was für eine Sehnsucht steckt hinter meinen oberflächlichen Wünschen? …

Ich nenne nur mal einige Beispiele von Sehnsüchten, die wir, glaube ich, alle kennen:

In uns allen steckt eine tiefe Sehnsucht nach Harmonie: dass alles zusammenklingt, dass Menschen sich gut verstehen, freundlich und fröhlich miteinander leben, ohne Streit.

Wir haben eine tiefe Sehnsucht nach Liebe: Geliebt zu werden und zu lieben. Sehnsucht, dass da jemand ist, der mich annimmt und mag, so wie ich bin, bei dem ich ganz und gar ehrlich sein kann und mit dem ich alles teilen kann.

Wir haben Sehnsucht nach Gerechtigkeit. Es ist unerträglich, mit ansehen zu müssen, dass Ungerechtigkeit und Lüge sich durchsetzen. Da ist ein ganz tiefes Verlangen in uns, dass das Recht und die Wahrheit ans Licht kommt.

Wir haben Sehnsucht nach Sinn. Wir wünschen es uns zutiefst, dass unser Leben eine Bedeutung hat, dass wir irgendwie Spuren in dieser Welt hinterlassen, etwas Gutes bewirken, etwas Sinnvolles schaffen.

Und wir sehnen uns nach Leben, nach Leben, das nicht aufhört. Die Vergänglichkeit schmerzt. Zu sehen, wie der eigene Körper welkt – das tut einfach weh. Und auch wenn wir vom Kopf her wissen: So ist es nun mal. Da ist eine tiefliegende Sehnsucht, ein Durst nach Leben, nach unvergänglichem Leben. Wie Paulus das schreibt: Erlösung von der Vergänglichkeit.

Das sind einige Beispiele.
Wonach sehnst du dich?
Was ist dein tiefstes Verlangen, das hinter den Wünschen liegt? …

Sehnsucht.
Wo kommt die eigentlich her?
Ich meine, wir sind doch alles vernünftige Leute, sind keine Träumer; sind keine Kinder mehr. Wir sind Realisten und wissen, wie die Welt ist.

Und trotzdem sind diese Sehnsüchte da. Wieso?

Tiefenpsychologisch könnte man das so deuten: Es ist die Erinnerung an den embryonalen Zustand, an die Geborgenheit im Mutterschoß, als alles heil war.

Evolutionspsychologisch könnte man sagen: Die Sehnsüchte haben eine Funktion. Sie sind die Motivationskräfte, die uns voranbringen, die Entwicklung bringen.

Da ist bestimmt etwas dran. Aber beide Deutungen greifen zu kurz.

Ich glaube, dass die Sehnsüchte einen anderen Ursprung haben.
Der christliche Glaube geht davon aus, dass wir Menschen eine tiefe Ahnung in uns tragen; eine Ahnung, dass diese Welt nicht so ist wie sie sein sollte.
Eine ferne Ahnung von dem verlorenen Paradies.

Unsere Sehnsucht ist wie ein Indikator. Sie erinnert uns daran, dass es noch etwas anderes gibt als die vorfindliche Welt.

(F: Werfel-Zitat)
Der Schriftstelle Franz Werfel hat einmal gesagt: „Durst ist der sicherste Beweis, dass es so etwas wie Wasser gibt.“

Unsere Sehnsucht ist der Durst.
Und dieser Durst, den wir in uns tragen, der zeigt uns: Es muss eine Erfüllung geben. Es muss echte Liebe geben, wirkliche Harmonie und Gerechtigkeit, wahren Sinn und Leben, unvergängliches Leben.

Unsere Sehnsüchte sind keine kindischen Träumereien, die wir ablegen sollten.
Sondern sie erinnern uns daran: Das, was wir jetzt erleben, das ist noch nicht alles. So war es nicht gedacht und so muss es nicht bleiben.

Im Buch Prediger im Alten Testament steht ein total interessanter Satz. Da sagt der Prediger: „Gott hat die Ewigkeit in ihr Herz gelegt.“ (Prediger 3, 11)

Das heißt also: Dieses tiefe Schmachten nach unvergänglichem Leben, das hat Gott in unser Herz gelegt.
Diese Sehnsucht nach Harmonie, nach Gerechtigkeit, nach Liebe, nach Bedeutung – das hat der Schöpfer unserer Seele eingestiftet, wie er den Durst dem Körper eingestiftet hat.

Einen ganz ähnlichen Gedanken finden wir bei dem großen Kirchenvater Augustinus.

(F: Augustinus-Zitat)
Der schreibt in seinen Bekenntnissen den berühmten Satz: „Gott, du hast uns zu dir hin geschaffen und unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet in dir.“

Unruhig ist unser Herz, voller Sehnsucht, bis es Ruhe findet und Erfüllung findet in Gott.

(F: Aufbau Seerose)
Kommen wir noch mal auf das Bild mit der Seerose zurück. Wir sehen sie hier im Aufbau: Unsere Wünsche sind wie die Blüten. Doch wenn wir tiefer schauen, sehen wir unterhalb der Wünsche unsere Sehnsüchte. Die sind wie die Pflanze. Und wenn wir noch tiefer schauen, dann entdecken wir: die Wurzel unserer Sehnsüchte, das ist Gott selbst.

Von ihm gehen die Sehnsüchte aus und nur bei ihm werden sie ihre letzte Erfüllung finden.

Noch sind wir nicht da.
Das schreibt ja auch Paulus: Auch die Kinder Gottes leben noch in der Sehnsucht. Wir sind schon mit Gott versöhnt und verbunden. Er hat uns schon seinen Geist geschenkt. Aber die letzte Erfüllung steht noch aus.

Solange wir auf dieser Erde sind, werden wir immer die Sehnsucht spüren.
Aber diese Sehnsucht ist ja nicht nur ein Schmerz.
Sie ist zugleich eine Kraft, die uns motiviert.

(F: Sehnsucht motiviert)
Die Sehnsucht kann uns antreiben, dass wir jetzt schon kleine Momente der Erfüllung erleben.

Wir können jetzt schon Liebe teilen, können daran mitwirken, dass Menschen Gottes Liebe erfahren und auch Liebe untereinander.

Wir können jetzt schon Harmonie ausbreiten in unserem Umfeld, können Streit beenden oder doch zumindest deeskalieren. Können uns im Kleinen für Versöhnung und Frieden einsetzen.

Wir können jetzt schon daran mitwirken, dass ein klein bisschen mehr Gerechtigkeit auf dieser Erde verwirklicht wird.

Die Sehnsucht treibt uns an, mit aller Kraft dafür zu kämpfen, dass sich Gottes Reich schon hier auf dieser Erde ein Stück weit realisiert.
Der Glaube an Gottes Reich bringt uns also in Schwung.

Aber gleichzeitig hilft der Glaube uns auch nüchtern zu bleiben. Wir werden auf dieser Erde nie die volle Verwirklichung unserer Sehnsucht erleben.

Doch diese Erde (> Globus), unser zerbrechlicher Planet, der so voller Sehnsucht ist, voller Wunden, der schmachtet nach Heilung, nach Gerechtigkeit, nach Harmonie – der wird getragen und umfangen von Gott selbst.

Und sein Reich kommt. Zu uns. Zu dieser Welt.
Wir gehen auf Gott zu, auf sein Reich. Und wenn wir bei ihm sind, dann wird unsere tiefste Sehnsucht erfüllt sein.

Und darum halten wir die Sehnsucht wach, brauchen sie nicht aufgeben. Wir legen auch nicht die Hände in den Schoß und resignieren nicht. Sondern wir können beten, wie Jesus uns das gelehrt hat: Dein Reich komme! Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden.

Amen.