Ihr Lieben,
Jan ist ein junger Mann, so Mitte zwanzig, eigentlich sehr lebensfroh und aktiv. In einem Podcast berichtet er, wie die Angst, etwas zu verpassen, sein Leben immer mehr verändert hat, wie er regelrecht krank geworden ist: Er konnte nicht mehr schlafen, hat ständigen Stress gespürt, war nur noch am Handy und am Bildschirm. Kriegte einen Reizdarm. Er war völlig fertig.
(F.1)
Jan leidet unter einer extremen Form von FOMO, der fear of missing out.
Der Begriff FOMO ist in den 90er Jahren entstanden. Und zwar kommt er eigentlich aus dem Marketing. Da hat man gemerkt: Wenn ein Artikel bewusst in kleiner Stückzahl auf den Markt kommt, als limited edition oder so, dann erzeugt man damit bei den Leuten eine Angst. Die Angst: Ich kriege nichts mehr ab. Und das macht die Menschen bereit, einen deutlich höheren Preis für diesen Artikel zu zahlen.
FOMO ist also ursprünglich ein bewusster Marketingtrick.
Aber richtig verbreitet hat sich dieses Phänomen erst in den letzten 15, 20 Jahren. Das hat mit den sozialen Medien zu tun.
Durch die sozialen Medien kriegt man ja ständig mit, was andere machen und was man so alles Tolles unternehmen könnte.
Auf Insta oder Snapchat siehst Du, was irgendwelche Leute gerade Schönes erleben. Da siehst du Bilder von krassen Parties und Konzerten oder Städtetripps. Und Du hängst da auf deiner Couch und hast das Gefühl: Ah, irgendwie geht das Leben an mir vorbei. Dort tanzt der Bär und ich hänge hier rum, gucke nur Fernsehen oder quäle mich mit der Lohnsteuer ab.
Oder du siehst auf whatsapp die Urlaubsbilder deiner Freunde: Oh Mann, die einen sind irgendwo am Meer mit super Wellen und die anderen machen geniale Bergtouren oder radeln durch die Provence und ich sitze auf dem Balkon und schwitze. Man hat das unschöne Gefühl: Ich verpasse so viel Schönes! Ich verpasse das Leben!
Oder diese Situation: Es ist Freitagnachmittag und du freust dich auf das Wochenende und weißt: Man könnte so viel machen: Da ein Konzert, dort ein Theaterstück, da ein toller Gottesdienst oder ein schönes Lokal, wo man schon immer hinwollte. Wir haben ja am Anfang gesehen und gehört, was man allein in Bonn an einem Wochenende so alles unternehmen kann.
Wir haben enorme Wahlmöglichkeiten. Und du weißt: Ich muss mich entscheiden. Aber wenn ich das eine mache, verpasse ich das andere.
Auch das ist FOMO.
FOMO ist keine Krankheit. Obwohl auch Krankenkassen sich inzwischen damit befassen.
FOMO – das ist ein ungutes Gefühl, das wir alle kennen. Und es ist etwas, das einen, wie Jan, wirklich krank machen kann.
Und das betrifft nicht nur junge Leute. Die vielleicht besonders, weil sie intensiver die Social Media nutzen.
Aber auch ältere Menschen kennen diese Angst, etwas zu verpassen.
Mir hat mal ein älteres Ehepaar erzählt, was sie noch alles an Urlauben machen wollen, welche Kreuzfahrten in den nächsten Jahren dran sind und welche Länder sie noch unbedingt sehen müssen. Und die bange Frage war: Schaffen wir das noch alles?
Die Furcht, etwas zu verpassen, wird natürlich kräftig von der Werbeindustrie gepusht.
Es gibt ja inzwischen eine ganze Literatursparte, die darauf abzielt: 100 Orte, die man gesehen haben muss, bevor man stirbt! Die 20 schönsten Städte, die Sie nicht verpassen dürfen! Die 50 tollsten Wanderwege, die Sie erleben müssen!
Bloß nichts verpassen!
Das Phänomen ist durch die sozialen Medien enorm verstärkt worden, aber diese Angst, etwas zu verpassen, die gab es natürlich schon immer.
Es ist ja sozusagen die Kehrseite unseres Lebenshungers. Und das ist eigentlich etwas Gutes. Aber es kann fatal enden.
Unter FOMO litt zum Beispiel schon der jüngere Sohn in dem Gleichnis von Jesus.
Ihr kennt vielleicht die Geschichte:
Ein Vater hat zwei Söhne.
Sie haben Land, haben Tiere, Angestellte, haben ein Haus. Es geht ihnen richtig gut.
Aber eines Tages kommt der jüngere Sohn zum Vater und sagt: Gib mir meinen Anteil am Erbe!
Der Vater lässt sich darauf ein, erstaunlicherweise, und zahlt seinen Sohn aus. Der nimmt sein Geld und zieht in die Fremde, und da verjuxt und verhökert er alles. Er lebt in Saus und Braus bis er nichts mehr hat.
Ich glaube, dieser junge Mann hatte genau dieses Gefühl: Hier zu Hause, beim Vater, da verpasse ich mein Leben. Das eigentliche Leben, das findet irgendwo da draußen statt, in der Fremde. Und ich hocke nur hier rum.
Und darum lässt er sich sein Erbe auszahlen.
Dieses Erbe ist das Gut, das er mit dem Vater geteilt hat. Wovon er ganz selbstverständlich gelebt hat.
Er will das aber jetzt nicht mehr mit dem Vater teilen, sondern will seinen Anteil für sich haben, für sich allein.
Mein Erbe, das mir zusteht!
In diesem Gleichnis geht es um uns Menschen und unsere Beziehung zu Gott.
Gott ist wie der Vater, von dessen Gut wir leben, der uns ernährt, der uns das Leben gibt.
Aber wir Menschen haben diesen starken Drang in uns, dass wir nicht von dem leben wollen, was uns jemand schenkt, sondern wir wollen es selbst besitzen, wollen es in der Hand haben.
Das Erbe, das steht für das, wovon wir leben. Unsere Lebenszeit, unsere Kraft, unsere Fähigkeiten. Es ist das Lebenskapital.
Und wir haben den Wunsch, das Maximum für uns herauszuholen, so viel aus unserer Lebenszeit herauszupressen wie es nur geht, so viele Möglichkeiten realisieren wie möglich, so viele schöne Dinge erleben wie man kann, ehe meine Lebenszeit mir zwischen den Händen zerrinnt.
Denn es ist ja meine Lebenszeit, mein Besitz, mein Erbe, das ich auspressen will bis auf den letzten Tropfen.
Und aus dieser Haltung erwächst die Angst:
Bloß nichts verpassen!
Bloß keine Zeit vergeuden!
Es ist FOMO, die den jungen Mann in die Fremde trieb und die letztlich dazu führte, dass er alles verprasst und am Ende bei den Schweinen landet.
Die Angst, etwas zu verpassen, kann dazu führen, dass wir uns total verausgaben und am Ende alles verpassen.
Übrigens – der ältere Sohn in der Geschichte macht es nicht besser. Er hat auch diesen Lebenshunger. Man merkt das später im Gleichnis wie neidisch er auf seinen Bruder ist. Aber er traut sich nicht, es ihm nachzumachen. Er lebt ganz für die Pflichten. Der Vater im Gleichnis ist eigentlich total großzügig. Aber statt das Leben mit dem Vater zu genießen, ist der ältere Sohn nur am ackern. Er hat das Gefühl, dass er nicht mal eine kleine Party mit seinen Freunden machen darf. Er verbietet sich alles, damit er gut dasteht.
Da ist also der eine Sohn, der seiner FOMO ganz nachgibt und sich darüber total verausgabt und der andere, der seine FOMO total unterdrückt und auf diese Weise auch das Leben verpasst.
Dieses Gleichnis, Ihr könnt das in Lk 15 nachlesen, wird von Jesus erzählt.
Und Jesus ist ja auch ein Sohn des Vaters; er ist sogar der Sohn. Der Sohn Gottes im eigentlichen Sinne.
Und bei Jesus können wir sehen, wie das Leben gelingt und wie wir frei werden von der Angst.
Wenn man sich das Leben von Jesus anschaut, dann merkt man: Der hatte offenbar überhaupt keine FOMO. Der war weder wie der jüngere Sohn noch wie der ältere. Er war einfach frei.
Es gibt eine Szene, wo das besonders anschaulich wird (Markus 1). Es war in Kapernaum, oben, im Norden Israels am See Genezareth. Jesus war seit ein paar Tagen dort gewesen, hatte bei Petrus gewohnt. Und in diesen Tagen ist in Kapernaum die Post abgegangen. Jesus hatte Menschen geheilt, zum Teil ziemlich spektakulär.
Leute, die Fieber hatten, wurden plötzlich gesund. Menschen, die unter bösen Geistern litten, wurden frei und jubelten. Jesus predigte von Gottes Liebe und Scharen von Leuten hingen an seinen Lippen. Riesenbegeisterung.
Petrus und die anderen Jünger von Jesus waren völlig von den Socken! Sie hatten das Gefühl: Mensch, das Reich Gottes bricht hier gerade an, hier in Kapernaum und wir sind mitten drin! Die fühlten sich als hätten sie ein Ticket für ein Taylor-Swift-Konzert gekriegt.
Superstimmung.
Und dann heißt es im Markusevangelium, dass Jesus am nächsten Morgen ganz früh, als alle noch schlafen, aufbricht und auf einen einsamen Berg geht, um zu beten.
Als die Jünger aufwachen, ist Jesus schon weg. Aber die ersten Leute klopfen an die Türe und fragen: Wo ist denn Jesus? Wann geht die Party hier weiter?
Petrus rennt los, sucht Jesus und irgendwann findet er ihn auf einem Berg, ganz allein, ins Gebet vertieft. Und er raunzt ihn fast an: Hey, was machst Du denn hier? Da unten in Kapernaum, da findet das Leben statt. Alle suchen dich schon. Los, komm mit, sonst verpasst du das!
Aber Jesus sagt: Nein. Gott hat mir klar gemacht: Heute ziehen wir weiter an einen anderen Ort. Auch die sollen von Gott hören.
Das Leben brummt in Kapernaum, aber Jesus zieht weiter. Er war völlig frei von der Sorge, etwas zu verpassen. Konnte ganz gelassen sagen: Das hier in Kapernaum war schön, aber jetzt ist etwas anderes dran. Keine FOMO. Totale Gelassenheit.
Wie kam er dazu?
Und was können wir da heute von Jesus lernen?
Das Geheimnis von Jesus ist, dass er sein Leben aus der Hand des Vaters empfangen hat. Immer wieder sagt er, dass er alles, was er macht, was er kann, vom Vater im Himmel empfängt.
(F.2)
Jesus hat sein Leben, seine Lebenszeit als ein Geschenk Gottes betrachtet. Nicht als seinen Besitz, als sein Kapital, das er in der Hand hält.
Ich glaube, dass ist der Schlüssel – auch für uns.
Du kannst dein Leben als deinen Besitz betrachten.
Die 80 Jahre oder wie viel es sein werden – das gehört mir. Das halte ich in meiner Hand und versuche so viel herauszuholen wie es nur geht.
Aber dein Lebenskapital verrinnt. Und du siehst, wie es weniger wird; jedes Jahr ein Jahr weniger. Und das erhöht den Druck und die Angst: Bloß nichts verpassen! Bloß nichts vergeuden!
Jesus lehrt uns einen anderen Blick auf unser Leben.
Gott schenkt dir dein Leben!
Du hast es nicht in der Hand.
Du kannst keine Sekunde deines Lebens festhalten. Du kannst ja nicht einmal einen einzigen Herzschlag durch Willenskraft hervorbringen.
Sondern jeder neue Tag ist eine neue Gabe!
Jeden Morgen kannst Du aufwachen und sagen: Wow, wieder ein Tag, der mir geschenkt wird!
Jede Stunde ist ein Geschenk.
Es geht da wirklich um eine neue Sicht auf das Leben.
Vielleicht ist es für dich eine ungewohnte Sicht. Aber versuche mal, dein Leben so zu betrachten.
Dann merkst Du wie sich ganz viel ändert:
(F.3)
– Wenn du dein Leben und jeden neuen Tag als ein Geschenk empfängst, dann spürst du, wie eine tiefe Dankbarkeit entsteht.
Danke, dass ich leben kann!
Danke für diesen Moment, den ich gerade habe!
Dankbar sein, weil dieser Moment eine Gabe ist – ob ich jetzt gerade ein Alpenpanorama vor mir habe oder gemütlich auf der Couch liege.
Dankbarkeit ist die wirksamste Medizin gegen FOMO.
Das empfehlen übrigens auch die Krankenkassen!
Wer dankbar ist, empfindet keine Angst, keinen Neid, sondern tiefe Zufriedenheit.
(F.4)
– Wenn ich mein Leben als Geschenk Gottes wahrnehme, dann kann ich den Moment genießen.
Auch das sehen wir bei Jesus. Der lebte ganz im Moment. Wir sehen in den Evangelien wie er immer ganz für die Menschen da ist, die da gerade vor ihm stehen, wie er ganz gegenwärtig ist.
Und auch das ist ein entscheidender Punkt, um die FOMO zu überwinden: Genieße den Moment! Schau nicht in Gedanken nach links und rechts, was jetzt vielleicht andere gerade machen oder wo man noch so sein könnte. Sondern freue dich an dem, was du gerade tust!
Und das ist möglich, wenn ich diesen Moment als Geschenk wahrnehme.
Ich drehe ganz oft eine kleine Runde durch den Kottenforst. Morgens jogge ich da so ein bisschen und oft gehe noch nachmittags eine kleine Runde. Und dann wird mir bewusst: Wow, wie schön! Dieser herrliche Wald! Die gute Luft! Der Gesang der Vögel! Das kommt alles von dir, mein Gott! Danke!
Und dann brauche ich überhaupt nichts anderes.
Wenn wir die kleinen Momente genießen – ein Spaziergang, ein Glas Wein im Garten, ein Telefonat mit deiner Freundin – dann hat die FOMO keine Chance!
(F.5)
Und ein dritter Punkt:
Wenn ich mein Leben als Geschenk Gottes wahrnehme und es mit Dankbarkeit genieße, dann erwächst daraus eine tiefe Gelassenheit.
Ja, ich werde viel verpassen. Unser Leben ist zu kurz, um alles mitzunehmen. Ich werde viele Länder nie sehen, die man gesehen haben muss und viele Wanderwege nie gehen. Aber was soll’s?
Gott hat mich reich beschenkt. Da kann ich ganz gelassen auch manches verpassen.
Zumal – auch das erfahren wir von Jesus: Diese 70, 80 oder 90 Jahre hier auf der Erde, das ist noch nicht alles. Es ist nur das Präludium.
Diese Welt und dieses Leben hier ist umfangen von einer viel größeren Wirklichkeit, von Gottes Welt, von der Ewigkeit, die Jesus uns aufschließt.
Wenn unsere Zeit hier abgelaufen ist, dann kommen wir durch ihn in diese andere Welt. Und da, bei Gott, in seiner Gegenwart, da wird so viel Leben sein, so viel Schönheit und Glanz – da werden wir ganz bestimmt nicht mehr zurückschauen und an die verpassten Partys hier auf der Erde denken.
Letztens erzählte uns eine Freundin: Ich hab noch genug Zeit, um viel zu erleben. Die ganze Ewigkeit liegt ja noch vor mir.
Wenn wir unser Leben als Geschenk Gottes wahrnehmen, dann erwächst daraus tiefe Dankbarkeit, dann können wir den gegenwärtigen Moment genießen und wir empfinden große Gelassenheit.
Und die FOMO hat keine Chance, unser Herz zu besetzen.
Mein Leben als Geschenk Gottes wahrnehmen – das passiert nicht von allein. Aber wir können es einüben.
Am Besten, indem wir jeden Tag bewusst Gott ansprechen als Geber des Lebens:
Mein Herr und Gott, dieser Tag, dieser Moment ist dein Geschenk. Ich empfange ihn aus deiner Hand.
Vielen Dank!
Amen.