Predigt: Karfreitag 2022 T-Karfreitag

15.4.2022

J.Berewinkel

Liebe Geschwister, kürzlich las ich in der ZEIT einen Satz, der sich bei mir festgehakt hat: „Mächtig ist, wer Schmerz erträgt“. Ivan Krastev hat diesen Satz gesagt. Er ...

Liebe Geschwister,
kürzlich las ich in der ZEIT einen Satz, der sich bei mir festgehakt hat:
„Mächtig ist, wer Schmerz erträgt“.
Ivan Krastev hat diesen Satz gesagt. Er ist bulgarischer Politologe.
Mächtig ist, wer Schmerz erträgt.
Das ist ja ein Satz, der sich nicht sofort erschließt.
Macht scheint doch eigentlich darin zu bestehen, dass man gerade keinen Schmerz ertragen muss, dass man alle Schmerzen fern von sich halten kann.

Krastev hat diesen Satz formuliert im Blick auf die Ukraine.
Und hier zeigt sich, dass er wahr ist.
Mächtig ist, wer Schmerz erträgt.
Wenn die Menschen dort nicht bereit wären, Schmerzen und Leid zu ertragen, wenn sie nicht bereit wären, die Bombardierungen auszuhalten und ihr Leben im Kampf zu riskieren, dann hätten sie schon längst aufgegeben und kapituliert. Sie wären machtlos gegen Putin und seiner Armee.

Aber sie haben Macht, weil sie Schmerzen ertragen.
Und dasselbe gilt ja auch für uns.
Wer keine Schmerzen und kein Leid ertragen kann, der ist machtlos gegenüber allen Drohungen und gegenüber jeder Angst.
Wenn wir nach der Maxime leben: Hauptsache kein Leid – dann werden wir bei jeder Schwierigkeit sofort kapitulieren. Dann können wir dem Bösen, dem Unrecht keinen Widerstand entgegensetzen.

Mächtig ist, wer Schmerz erträgt.
Der Satz wirft auch ein neues Licht auf Jesus und was mit ihm geschehen ist.

Wir haben eben den Bericht über seine Kreuzigung gehört.
Jesus hat da furchtbare Schmerzen ertragen.
Die Kreuzigung eines Menschen ist so grausam, dass man es sich nicht vorstellen mag.
Es sind grausame physische Schmerzen.
Und zu dem körperlichen Schmerz kommt die Schande, die man dort ertragen muss. Wer am Kreuz hängt, ist ein Abschaum, ein Auswurf der Gesellschaft. Jesus wird bespuckt und verachtet und verspottet.

Seine Freunde lassen ihn im Stich und verkriechen sich.
Der Prozess vorher war eine einzige Farce:
Bestochene Zeugen, lügenhafte Behauptungen, böswillige Unterstellungen. Ein Pilatus, der das Recht bricht, der weiß, dass da ein Unschuldiger vor ihm steht und der dem Druck der Menge nachgibt und ihn zum Tod verurteilt.
Es ist alles so furchtbar, so falsch, so böse.

Und es ist alles ganz real.
Was mit Jesus passiert ist damals in Jerusalem, das ist so real wie die Grausamkeiten in Butscha und Mariupol.
Reales, schlimmes Leid.

Aber alle Evangelien berichten, dass Jesus dieses Leid bewusst ertragen hat. Er war überzeugt, dass dieser Weg nötig ist, dass es sein Weg ist.

Wir hatten das neulich in der Predigt von Cornelius Brühn gehört. In dem Predigttext sagt Jesus, dass er gekommen ist, um sein Leben hinzugeben als ein Lösegeld für die Menschen.

Einige Tage später, im Garten Gethsemane, hat Jesus mit Gott gerungen. Er sagte zu Gott: Nimm doch diesen Kelch von mir! Er wollte diese Schmerzen nicht ertragen. Aber dann sagte er: Nicht mein, sondern dein Wille geschehe! Er hat Ja gesagt zu dem Weg ins Leiden.

Kurz vorher hatte Jesus mit seinen Jüngern das Abendmahl gefeiert, wie wir es auch gleich feiern werden. Da hat er noch mal mit anderen Worten ausgedrückt, was am nächsten Tag, am Karfreitag, passieren wird.
Ich gebe meinen Leib für euch!
Ich gebe mein Blut für euch!
Ich gebe mein Leben für euch hin.
Das Schlimme, das morgen mit mir passieren wird, das geschieht für euch und für alle Menschen.
Euch zugut.

Wir sehen da also einen Menschen, der Ja sagt zu den Schmerzen.
Und darin zeigt er seine Macht.
Er kapituliert nicht vor dem Bösen.
Er läuft nicht davor weg, und er lässt sich auch nicht vom Bösen anstecken.
Sondern er geht in das Leid und in das Böse hinein, bis auf den Grund.

Beim ökumenischen Passionsgottesdienst vor 10 Tage hatte Pfr. Bernd Kemmerling hier gepredigt. Einige von Ihnen waren ja dabei gewesen. Da sagte er, wie auffällig unser Kreuz hier ist. Wie tief das nach unten geht.
Und er deutete es so: Am Kreuz geht Jesus ganz tief nach unten, tief hinein in das Leid dieser Welt, in das Leid unseres Lebens, in die Schuld und Not.
Mich hat das sehr berührt. Ich hatte vorher noch nie über dieses Kreuz hier nachgedacht, aber es stimmt.
Es geht ganz tief runter!

Aber es bleibt doch die Frage:
Warum musste das denn sein?
Warum musste Jesus dieses Leid ertragen?
Warum musste er so tief hinunter gehen?

Ich glaube, dass das, was da am Kreuz passiert ist, ein Geheimnis ist. Etwas, das wir wohl nie völlig mit unserem Verstand erfassen können.

Manchmal helfen uns ja Bilder und Vergleiche, um es ein wenig mehr zu verstehen.
Vielleicht erinnern Sie sich noch an das Brunnenunglück in Marokko vor zwei Monaten. Da war ein 5-jähriger Junge, Rayan, in einen Brunnenschacht gefallen. Er hatte in der Nähe gespielt. Der Brunnen war nicht abgedeckt. Eine kleine Öffnung im Boden. Und der Junge fiel hinein. 32 Meter tief! Unglaublich, dass er nicht sofort tot war. Er lebte, lag da am Boden in der Tiefe, verletzt. Er wimmerte. Seine Eltern hörten ihn und holten Hilfe. Sofort kamen Einsatzkräfte, um den Jungen da rauszuholen. Es gab einen riesigen Medienwirbel. Vielleicht haben Sie die Bilder aus dem Fernsehen noch vor Augen. Zig Rettungskräfte waren da. Viele Schaulustige. Man sah die Eltern, die verzweifelt hofften, dass man ihren Jungen da irgendwie rausbekommt. Stellen Sie sich das nur mal vor, wie das sein muss, wenn das eigene Kind, 5 Jahre alt, da unten in der Tiefe liegt!

4 Tage lag Rayan im Brunnenschacht. Man ließ Wasser und Nahrung mit einem Seil runter und hielt Kontakt. Es wurde alles versucht, um den Jungen herauszubekommen, Tag und Nacht. Aber man konnte Rayan nicht direkt erreichen. Der Schacht war einfach zu schmal. Ein erwachsener Mensch passte da nicht durch. Es gab keinen Zugang zu dem Kind. Die Helfer versuchten dann, einen Parallelschacht zu graben. Aber das dauerte viel zu lang.

Und so starb Rayan in dem Brunnen, weil man ihn nicht erreichen konnte. Weil keiner zu ihm hinabsteigen konnte.

Am Karfreitag ist Jesus ganz tief hinabgestiegen. Tief hinein in das Leid dieser Welt, in das Böse, in das Dunkle dieser Welt. Und zwar um uns zu erreichen, um uns aus der Dunkelheit herauszuholen.

Die Bibel sagt über uns Menschen etwas, das klingt nicht schön. Und ich würde uns das am liebsten auch ersparen, weil wir das eigentlich gar nicht hören wollen. Sie nicht und ich auch nicht. Aber ohne dies können wir das, was am Kreuz passiert ist, überhaupt nicht erfassen.

Die Bibel sagt, dass das Böse eine Realität ist. Und dass wir alle daran Anteil haben. Es wohnt in uns, in unserem Herzen, neben all dem Guten, was da wohnt. Und dieses Böse kriegen wir nicht weg.
Dieses Böse reicht tiefer als unsere psychologischen oder soziologischen Erklärungen. Es hat seine tiefste Ursache darin, dass zwischen uns und Gott etwas nicht stimmt. Dass zwischen mir und Gott die Beziehung gestört ist, dass ich von Gott entfremdet bin. Und aus dieser Distanz zu Gott erwächst Angst. Die Angst, zu kurz zu kommen. Und es erwächst daraus ein Misstrauen gegen Gott und das Leben, und aus dem Misstrauen erwächst die Gier nach Besitz und Kontrolle und daraus Neid und Lüge und Streit.

Das ist kein schönes Thema, und ich wünschte, es wäre anders. Aber es ist die Realität. Zwischen uns und Gott stimmt etwas nicht. Da ist eine Distanz.
Wir sind alle in den Brunnen gefallen und die Verbindung zu Gott ist gestört.

Und darum ist Jesus diesen Weg gegangen.
Er ist ganz tief hinuntergegangen in das Dunkle, in unseren menschlichen Schlamassel. Um uns zu erreichen. Und um uns zu Gott zurückzubringen.

Jesus konnte das tun, weil er bereit war, Schmerz und Leid zu ertragen.
Darin erweist er seine Macht.

Wie das genau funktioniert, wie sein Tod uns Leben und Vergebung bringt, das bleibt für mich etwas Geheimnisvolles. Ich verstehe es nicht wirklich. Man kann jede Menge Bücher darüber lesen und grübeln und es bleibt doch irgendwie unfassbar.

Aber entscheidend ist nicht, was da genau am Kreuz passiert ist. Viel wichtiger ist, wer da hing; wer diesen Weg gegangen ist.

Der Apostel Paulus schreibt einmal:
„Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selbst.“ (2Kor 5, 19)

Gott selbst ist in Jesus hinabgestiegen, in unseren Brunnenschacht gekommen, hat sich hineinbegeben in unsere Dunkelheit. Und hat uns mit sich neu in Verbindung gebracht.

Am Kreuz sehen wir, wie mächtig Gott ist:
Es ist eine Macht, die auf Gewalt und Selbstschutz verzichtet, die Schmerzen und Ablehnung erträgt,
die sich mit uns Menschen, mit unserem Leid und mit unserer Schuld identifiziert und uns so mit Gott versöhnt.
Am Kreuz sehen wir eine abgrundtiefe Liebe.
Und die ist stärker als jede andere Macht.
Amen.