Liebe Geschwister,
ich möchte Ihnen heute von einer seltsamen Begegnung erzählen. Sie ist Fiktion, hat so nie stattgefunden. Aber vielleicht findet etwas Ähnliches in diesem Gottesdienst statt.
Stellen Sie sich vor: Es ist die erste Adventswoche, so gegen halb fünf Uhr auf dem Marktplatz in Bonn. Es wird schon dunkel. Die Marktstände sind abgebaut. Aus den Geschäften hört man Weihnachtsmusik dudeln. Es duftet irgendwoher nach gebrannten Mandeln, viele kleine Lichter blinken. Etliche Menschen sind noch unterwegs.
Eine Frau geht mit zügigen Schritten über den Marktplatz Richtung Schloss. Sie hat Tüten in der Hand, kommt wohl vom Einkaufen. Plötzlich verlangsamt sie ihren Schritt.
Neben dem großen Weihnachtsbaum sieht sie einen alten Mann. Der steht da und schaut sich um.
Er sieht merkwürdig aus: trägt ein langen uralten Mantel, hat eine Art Wanderstab in der Hand, an den nackten Füßen abgelaufene Sandalen. Alles an ihm sieht verschlissen aus.
Zuerst denkt die Frau: Es ist ein Obdachloser. Aber als sie genauer hinschaut, merkt sie: Der sieht anders aus. Seine Kleidung ist – fast antik. Und die Augen, die flackern wie zwei kleine Feuer.
„Wie ein Mensch aus einer anderen Zeit!“, denkt sie.
Da sieht er sie an und sagt leise: „Guten Tag! Ich … ich komme Ihnen wohl etwas komisch vor, wie?“
„Ach, nein… Na ja, ein bisschen schon. Sie sind wohl nicht von hier?“
„Nein. Von hier bin ich nicht. Ich habe eine sehr lange Reise hinter mir… Wie heißen Sie?“
„Ich heiße Mohdern. Claudia Mohdern. Und Sie?“
„Ich heiße Jeremia.“
„Und weiter?“
„Nichts weiter. Nur Jeremia, der Sohn von Hilkia.“
„Was machen Sie denn bei uns in Bonn?“
„Ich bin auf der Suche nach IHM, dem Sproß!“
„Was? Welchem Sproß?“
„Ach, natürlich. Das können Sie nicht verstehen. Das ist eine alte und lange Geschichte.“
Aber die Frau ist neugierig geworden. Irgendwie fasziniert sie dieser geheimnisvolle Mann. Sie schaut kurz auf die Uhr und sagt dann: „Wissen Sie was, eine halbe Stunde habe ich noch. Wir können uns hier ins Varietee setzen. Da ist es schön warm. Dann trinken wir eine Tasse Tee und Sie können mir von diesem Sproß erzählen.“
Der Mann ist sehr angetan von dieser Idee. Sie gehen zusammen ins Geschäft und als die dampfenden Tassen mit Tee auf dem Tisch stehen, beginnt der Alte zu erzählen:
„Ich lebte damals in Jerusalem. Einige Leute nannten mich einen Propheten. Weil ich manchmal ganz deutlich Gott reden hörte. Wissen Sie, wenn Gott zu einem redet, dann ist das nicht immer schön. Ich spürte mit meinem ganzen Körper wie Gott leidet, spürte seinen Zorn über unsere Könige und die Priester und Richter und das ganze Volk.
Unsere Könige waren eine Katastrophe. Die hatten einer nach dem anderen total versagt. Sie hätten Vorbilder sein müssen für das Volk, so wie es David, ihr Vorfahr, gewesen war. Sie hätten den Menschen zeigen müssen, was es bedeutet, Gott zu vertrauen. Aber stattdessen vertrauten sie nur ihrem Geld und ihren Waffen und Verbündeten.
Sie hätten die Menschen dazu bringen sollen, das Recht zu achten und die Schwachen zu schützen. Aber sie haben selber das Recht verdreht wie sie wollten.
„Ach, das kenn ich!“, sagt die Frau, „solche Typen gibt es heute auch noch!“
Der Alte trank einen Schluck und seufzte:
„Es waren schlimme Zeiten damals.
Ich habe mit eigenen Augen gesehen wie ihre Beamten sich Häuser und Grundstücke unter den Nagel gerissen haben von armen Leuten, die verschuldet waren und sich nicht wehren konnten. Ich hab gesehen wie die Richter sich bestechen ließen und die Gesetze immer zu Gunsten der Reichen ausgelegt haben. Und der König machte die Augen zu und strich sich seinen Teil ein!
Und die Großen steckten die Kleinen an mit ihrem bösen Treiben! Alle machten mit. Als wäre kein Gott da, der das sieht.
Gott machte mir ganz deutlich, dass er sich das nicht länger gefallen lassen wird. Dass er mit dem Königshaus Schluss machen wird und dass eine furchtbare Katastrophe auf uns zukommt.
Frau Mohdern spürte wie schmerzvoll die Erinnerung für den Alten war. „Aber was war denn nun mit diesem Sproß?“, fragte sie.
„Ach ja, der Sproß. Davon wollte ich Ihnen ja erzählen. Also, es war in der Zeit von König Zedekia, dem letzten der Könige von Juda. Es war nur ein paar Jahre bevor die Babylonier unser Jerusalem zerstört hatten. Da hatte ich wieder Gottes Stimme gehört. Ganz deutlich. Und diesmal war sein Wort für mich wie die Morgenröte nach einer langen Nacht. Ich hörte ihn sagen:
Siehe, es kommt die Zeit, da werde ich dem David einen gerechten Sproß erwecken. Der wird als König regieren und verständig handeln. Und er wird Recht und Gerechtigkeit im Land üben. In seinen Tagen wird Juda gerettet werden und Israel in Sicherheit wohnen. Und dies wird sein Name sein, mit dem man ihn nennen wird: Der Herr, unsere Gerechtigkeit.
Die Frau starrte den Alten an und schüttelte den Kopf: „Ich glaub, ich verstehe Sie nicht ganz. Was heißt das denn?“
Der Alte sagte: Das ist doch völlig klar: Gott macht mit dem Königshaus Schluß. Er hackt es ab wie einen kranken Baum. Zedekia war tatsächlich der letzte König über Israel aus der Familie von David. Aber irgendwann wird aus dem Stumpf ein neuer Sproß, ein neuer Trieb wachsen. Es wird irgendwann einen Nachkommen Davids geben. Der wird König werden über Israel. Und der wird gerecht sein und der ganzen Welt Gerechtigkeit bringen.
Auf den warte ich. Nach dem sehne ich mich. Den suche ich.“
Die Frau trinkt ihre Tasse leer und sagt: „Und Sie sind sich ganz sicher, dass Gott Ihnen das gesagt hat?“
„Ganz sicher. Er hat es versprochen. Und er wird kommen, eines Tages.“
„Na, da kann ich Ihnen nur wünschen, dass das bald passiert. Bei den Problemen, die Sie haben.“
„Haben Sie denn keine Probleme?“
Frau Mohdern ist etwas irritiert. „Doch, natürlich. Jeder hat ja so seine Probleme.“
„Welche haben SIE denn?“
„Na ja“, sagt sie, „diese Pandemie macht mich echt fertig.“
„Pandemie??“
„Ja, seit bald zwei Jahren hat uns dieses Virus im Griff. Die Regierung wird einfach nicht fertig damit. Die stümpern immer nur rum. Und viele Menschen sind so uneinsichtig. Es ist furchtbar. Und kein Ende in Sicht.
Und mit dem Klimaschutz kommen wir auch nicht voran. Alle wissen, dass wir dringend was tun müssen. Aber jeder schiebt die Verantwortung auf die anderen. Keiner ist bereit, echte Opfer zu bringen. Mir geht’s ja genau so.
Ach, und dann der Blutdruck. Ich krieg den nicht in den Griff. Mein Arzt sagt mir immer, ich soll mir nicht so viel Stress machen. Aber wie denn bitte?! Mein Chef macht immer mehr Druck. Ständig muss ich Überstunden machen, kann mich nicht richtig um meine Kinder kümmern. Zuhause bleibt alles liegen. Lutz, das ist mein Mann, der ist auch ständig unterwegs. Immer wieder haben wir Streit. Also, ehrlich gesagt: Unsere Ehe hat auch schon bessere Zeiten erlebt.“
Da beugt sich der Alte etwas näher zu ihr heran und sagt: „Dann könnten Sie die Hilfe vom König doch auch gut gebrauchen.“
„Tja, Hilfe könnte ich schon gebrauchen. Aber ob Ihr König mir wirklich helfen würde, wage ich zu bezweifeln. Wenn er überhaupt kommt, dann würde der sich doch um Politik und Gesetze kümmern und nicht um meine Privatprobleme.“
„O doch!“, sagt der Alte entschieden, „Gott hat mir gesagt, dass er nicht nur die Gesetze verändern wird. Er wird die Herzen verändern. Er wird eine Erneuerung von innen her schaffen: neue Herzen, neue Entschlossenheit, eine neue Kraft, das Gute zu tun.“
Frau Mohdern sinnt nach. Erneuerung von innen her, neue Kraft, das Gute zu tun, ein verändertes Herz…Wenn es das wirklich geben würde…
Sie spürt, dass ihr Tränen in die Augen steigen. Schnell wischt sie die Tränen mit dem Handrücken weg. Aber der Alte hat sie schon bemerkt.
„Warum weinen Sie?“, fragt er vorsichtig.
„Ach, es ist nichts. Ich bin im Advent immer so ein bisschen sentimental.“
„Advent? Was ist das?“ fragt Jeremia.
„Advent…Tja, wie soll ich das beschreiben…Also wörtlich heißt Advent wohl „Ankunft“.
„Ankunft?“ Die Augen des Alten flackern auf. Er ist auf einmal voller Anspannung und Unruhe: „Wessen Ankunft?“
„Na, Sie stellen Fragen. So gut kenne ich mich da ja auch nicht aus. Es geht da, glaub ich, um die Ankunft von Jesus, dass er geboren wurde, da in dem Stall in Bethlehem. Das feiern wir eben so jedes Jahr…Ein schöner alter Brauch, wissen Sie.
„Wurde er wirklich in Bethlehem geboren?“, fragt Jeremia hastig nach.
„Ja. Aber warum interessiert Sie das so sehr?“
„Bethlehem ist die Geburtsstadt von David!“
Frau Mohdern starrt den Mann mit offenem Mund an. „Meinen Sie etwa…Wollen Sie sagen, dass Jesus etwas mit diesem Sproß zu tun hat?“
„Hm..“, der Alte grübelt, „es könnte sein. Hat sich denn durch IHN die Welt verändert? Ist die Erneuerung von innen her gekommen?“
„Ich weiß nicht so recht“, sagt die Frau irritiert. Eine Flut von widersprüchlichen Bildern durchzieht auf einmal ihren Kopf: Christen, die im antiken Rom den Tieren vorgeworfen werden um ihres Glaubens willen, Kreuzritter, die nach Palästina marschieren und Blutspuren hinterlassen. Sie sieht Martin Luther wie er seine Thesen anschlägt, Mutter Theresa, die Sterbende pflegt, ein Boot von der Kirche, das Flüchtlinge aus dem Meer rettet.
Sie schaut kirchliche Würdenträger in Pomp und Prunk, leere Kirchenbänke in großen Kathedralen und dann eine Gemeinde von fröhlich-singenden Christen in Afrika.
Und dann fällt ihr Charlotte ein, eine Freundin von früher. Sie hatte vor einiger Zeit ein starkes religiöses Erlebnis und seitdem hat sie sich total verändert. Und, ja, jetzt wird es ihr erst so richtig bewusst: Sie hat immer wieder von Jesus geredet…
Hat Jesus die Erneuerung gebracht, das neue Herz, die neue Entschlossenheit?
„Ich weiß nicht“, sagt sie noch einmal leise.
Der Alte schaut plötzlich aus dem Fenster und sucht den Himmel. „Ich muß aufbrechen“, sagt er, „die Sterne sind schon zu sehen.“
Dann steht er auf, gibt Frau Mohdern die Hand und sagt: „Vielen Dank, sie haben mich auf eine wichtige Spur gebracht. Und wenn Sie mehr über IHN erfahren – dann lassen Sie es mich wissen.“
Frau Mohdern lächelt den Alten an: „Sie haben auch mich auf eine wichtige Spur gebracht. Danke!“
Der Alte geht raus. Die Frau zahlt gedankenverloren den Tee. Als sie auf den Markplatz tritt, ist der Alte nicht mehr zu sehen.
Langsam geht sie heimwärts.
Die Gedanken schwirren in ihrem Kopf herum.
Doch allmählich, im Laufen, beginnen sich die wirren Gedanken zu ordnen.
Claudia Mohdern beobachtet, dass sich in ihr klare Entschlüsse formen. Sie, die sonst meistens so hin- und hergerissen ist, sich so schwer zu etwas aufraffen kann, sie spürt in sich eine erstaunliche Energie, eine Klarheit und Entschlossenheit, die sie selbst verwundert.
Diese Adventszeit wird anders werden, sagt sie halblaut vor sich hin.
Ich werde drei Dinge tun, und niemand wird mich davon abbringen.
Erstens werde ich meine Bibel ausgraben und den Propheten Jeremia lesen. Ich muss die Stelle finden, wo er das mit dem Sproß und mit dem neuen Herzen gesagt hat. (Kp. 23 und 31)
Zweitens werde ich Charlotte besuchen. Ich will genau wissen, was sie erlebt hat und wie sich ihr Leben verändert hat und ob das wirklich mit Jesus zu tun hat. Morgen rufe ich sie an.
Und drittens werde ich versuchen zu beten. Wenn Jesus wirklich dieser neue König ist und wenn er wirklich die Erneuerung von innen her bewirken kann, dann will ich das auch erleben. Ich werde ihn einfach bitten, mir zu helfen mit dieser Pandemie besser klar zu kommen und meinem Chef die Meinung zu sagen und mich mit Lutz auszusprechen.
Als Frau Mohdern die Haustür erreicht, stehen die drei Entschlüsse fest. Mit einem Mut, der ihr sonst fremd ist, schließt sie die Tür auf und sagt zu sich selbst: Das wird eine gute Adventszeit.
Amen.